Mannheim. Es begann mit einer guten Nachricht. Eifrig weiterzugeben, dass man mittlerweile ohne Test-Nachweis, wenn auch freilich mit Maske ins Theater darf, war den Vorstandsmitgliedern Matthias Bretschneider und Achim Weizel besonders wichtig. Alles ändert sich eben, sogar die traditionsreiche Mitgliederreihe „Begegnung“ der Mannheimer Freunde und Förderer des Nationaltheaters. Einst enthielt das Format ein „mit“ (gefolgt von drei Pünktchen) im Titel, derzeit prangt an dieser Stelle noch ein „online“.
Zum vorletzten Mal in dieser Spielzeit lud es im Zoom-Format zum Gespräch mit Necati Öziri, dem aktuellen und von den „Freunden“ finanziell unterstützten Hausautor am Nationaltheater. Am 13. Juli, wenn zum Spielzeitabschluss aus dem Opernensemble Bariton und Bloomaul Joachim Golz online zu Gast sein wird, hofft man die digitale Variante der pandemiekonformen Treffen hinter sich zu haben.
Zum Kennenlernen taugt das Zoom-Format durchaus auch. Gut zwei Dutzend engagierte Schauspielfreunde freuten sich auf die Begegnung mit dem frisch – und gleich mehrfach – ausgezeichneten Teilnehmer am Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb (wir berichteten). Chefdramaturgin Kerstin Grübmeyer stellte den in Berlin lebenden Autor vor.
Dem Sog der Bühne gefolgt
Er sei nicht morgens mit dem Gedanken aufgewacht „ Ich werde Dramaturg!“ Vielmehr sei er ein „bisschen reingerutscht“, bei einer Wohnungsbesichtigung sei er auf das benachbarten Theater Ballhaus Naunynstraße aufmerksam geworden, wo er über Jugendarbeit, Hospitanzen, Assistenzen und Dramaturgie zunehmend in den Sog der Bühne gekommen sei, berichtet Öziri.
Die theatralische Grundsituation, „in der eine Minderheit auf der Bühne zu einer Mehrheit vor der Bühne spricht“, habe ihn zunehmend interessiert.
Am Berliner Maxim Gorki Theater benennt er seine prägende Zeit in der Bewunderung für und Zusammenarbeit mit der dortigen Hausautorin Sasha Marianna Salzmann. Dass Schreiben ein gemeinsamer Prozess des Austauschs im Spannungsfeld des Miteinanders ist und nie im luftleeren Raum hängt, daran glaubt er fest. Erstmals erfahren habe er es in einer Schreibwerkstatt im Ballhaus Naunynstraße.
Bei der Theaterarbeit als Dramaturg zeigte sich schnell, „dass ich meist genervt war, nicht in den Text eingreifen zu dürfen“. Bei der Tatsache, dass es am Theater üblich und gestattet sei, Texte gegen den Strich zu lesen und zu bearbeiten, sei ihm immer wieder der Gedanke gekommen: „Man hätte sie auch gegen den Strich schreiben können!“
Ein Verfahren, das der 32-Jährige nach Umwegen zum eigenständigen literarischen Verfahren entwickelt hat, das er „Korrekturen“ nennt, weil er Autoren wie Schiller oder Kleist, mit denen ihn „eine merkwürdige Hass-Liebe“ verbinde, nicht überschreiben oder überarbeiten, sondern eben „korrigieren“ will. Dass der eloquente Germanist und Literat mit der Benennung dieses Verfahrens durchaus bewusst an der Provokationsschraube dreht, darf wohlwollend angenommen werden.
An Selbstbewusstsein mangelt es nicht: Nicht er habe sich für Kleist, sondern Kleist habe sich für ihn entschieden. Verluste, Gewalterfahrungen, männliche Sichtweisen und die Komplexität einer Familiengeschichte bringt Öziri in seinen Stücken ein, in denen er allerdings in „Aufführungsbedingungen“ nicht in Regieanweisungen festlegt, in welcher Geschlechterverteilung sie zu spielen seien: 50 Prozent der Mitwirkenden müssen sich als Frauen wahrnehmen. Das ist politisch korrekt.
Dass Heinrich von Kleist ein „Großmeister im Weglassen, im Manipulieren, im Lücken lassen“ sei, könne „man als Einladung verstehen, diese zu füllen“. Dass dies ein sehr konzeptioneller Zugang sei, räumt Necati Öziri ein, der sicher ist, dass sich Dichter, „die zu ihrer Zeit voll ins Leben griffen“ auf dem Sockel heutiger Klassikerverehrung nicht wohlfühlen würden.
Welche historischen Ausschnitte einer Revolution, welche Befreiungskämpfe, Gewaltexzesse und Machtgefälle zeigt Kleist? „Ich hole es nicht ins Heute, lasse es dort und nehme eine Operation vor, dann wird geschaut, wie wirkt sich das auf die Geschichte aus?“ Alle Figuren bei Kleist seien gewalttätige Männer. Öziri fragt sich nun, wo sie hätten abbiegen können, damit die Geschichte anders ausgegangen wäre.
Von den freundlichen Theaterfreunden kommen keine Fragen.
Autor Necati Öziri
- Necati Öziri wurde 1988 in Datteln (Nordrhein-Westfalen) geboren. Der studierte Germanist schreibt für das Schauspielhaus Zürich, das Maxim Gorki Theater, das Residenztheater München und das Nationaltheater Mannheim, dessen Hausautor er in der nun endenden Spielzeit ist.
- Sein Stück „Get deutsch or die tryin’ it“ wurde 2018 am Berliner Maxim Gorki Theater Berlin in der Regie von Sebastian Nübling uraufgeführt. Er inszenierte 2019 auch die Kleist-Korrektur „Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch“, am Schauspielhaus Zürich.
- „Gott, Vater, Einzeltäter“ zu Kleists Erzählung „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ sollte am NTM folgen und ist auf die nächste Spielzeit verschoben. Im Januar 2022 folgt in Zürich „Der Ring des Nibelung – Eine Korrektur“.
- 2021 wurde Necati Öziri von Jurorin (und Lesen.Hören-Kuratorin) Insa Wilke zu den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur (Ingeborg-Bachmann-Preis) eingeladen, wo er für den Prosatext „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“ den Kelag-Preis und den Publikumspreis gewann.
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