Schauspiel - Zur verschobenen NTM-Premiere bietet „Cecils Briefwechsel“ ein analoges Bühnenprojekt für zuhause – ein Selbstversuch

Lohnt sich das Briefwechsel-Projekt des Nationaltheaters Mannheim?

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Tischlein, deck dich: Nur die Ostereier und das weiße Häschen entspringen der nachösterlichen Deko des Rezensenten, alles Übrige sind Requisiten des NTM. © RCL

Mannheim. Ob man wieder angefangen habe, zu rauchen, fragt der Nachbar mit der guten Nase im Treppenhaus mit schelmischem Grinsen. Es rieche bei mir in letzter Zeit, nun ja, durchaus gut, aber sehr würzig, nun ja, auch ein wenig streng, wenn ich wisse, was er meine (grins) … Bevor zwischen Reinlichkeitsfanatiker und Schnüffler nun ein veritabler Nachbarschaftsstreit eskaliert, fällt mir ein, was er meinen könnte …

Nein, ein alter Kiffer sei ich nicht, sondern das Nationaltheater versorge mich im Heimbüro mit theatral abzuräucherndem Salbei. Der dringe nun aus dem Heim und rieche wie bewusstseinserweiternde Substanzen, zu denen man Kunst und Theater ja durchaus auch zählen könne.

Manchmal wiederum wünschte man sich aber auch ganz real, so das Geständnis an den Nachbarn, dass das Theater jene Substanzen bereitstellen möge, um das Gezeigte - sagen wir mal nicht zu ertragen, sondern - in anderem, möglichst rosigem Lichte wahrnehmen zu können. Das sei aber eine andere Geschichte, der gegenüber aber des Rätsels Lösung hier der Vorzug zu geben ist.

Der Salbei qualmt

Für die nicht gänzlich ausgefallene, aber so doch heftig ins Ungewisse verschobenen Uraufführung des Stücks „Gott Vater Einzeltäter - Operation Kleist“, das als Auftragsarbeit des Hausautors Necati Öziri entstanden ist, hat sich die Bühne am Goetheplatz - wie berichtet - etwas einfallen lassen. Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra haben mit dem Produktionsteam „Cecils Briefwechsel - ein Post-Drama“ ersonnen. Postdramatisch, also von den Genre-Zwängen des klassischen Stücke-Schreibens befreit, losgelöst in Textform und Figurenzuordnung ist Öziris Werk freilich: ein Autor auf der Höhe seiner Zeit, der sich aus Biografie und Figurenpersonal Heinrich von Kleists ein Ensemble herausgesucht hat, das in Verknüpfung mehrerer Stränge Männer- und Heldenbilder untersucht - damalige und heutige.

Cecils Brief-Wechsel – ein Post-Drama

  • "Cecils Brief-Wechsel – ein Post-Drama“ von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble nach „Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist“ des aktuellen NTM-Hausautors Necati Öziri ist eine mittlerweile abgeschlossene Zusatzproduktion der Schauspielsparte: ein Stück Theater kam ganz analog per Post nach Hause.
  • Wer sich für die Teilnahme entschied, buchte ein Ticket für 20 Euro über die Theaterkasse sowie einen Starttermin für den ersten Brief, die an der Kasse buchungstechnisch wie Vorstellungstermine behandelt wurden. Aufgrund der starken Nachfrage wurde es sechs Starttermine, für anfangs 100, dann aber 200 Teilnehmer. Die Briefwechsel für den letzten Starttermin am 22. März laufen noch.
  • Die Mitwirkenden folgt nicht nur der im Brief erzählten Geschichte, sondern inszenierten mit den beigelegten Requisiten ein persönliches Theatererlebnis. Am Ende verfasst man einen Antwortbrief an Cecil und trat mit ihr in Dialog.
  • Mit den je vier Briefen des NTM (800) und den jeweils drei Publikumsantworten (600) wurden insgesamt 1400 Briefe gewechselt. 

 

Dass die Vorgeschichte zur postdramatischen Stückpremiere nun zu den „Zuschauern“ buchstäblich als echtes „Post-Drama“ per Briefträger in 200 Publikumsbriekästen kam, war die zündende Idee von Sapir Heller. Nun kam sie, die Post: ein Schreiben mit den Spielregeln fürs Heimtheater, etwa der Aufforderung innerhalb einer Woche zurückzuschreiben, und Textpassagen aus Öziris Stück. Als Kritiker will man es natürlich vorher lesen, um ermessen zu können, wie nah, fern oder originell sich das Team der Zusatzproduktion mit dem Primärstoff auseinandersetzte. Zum Stück hat man daher freilich schon eine Meinung, die offenzulegen sich vor der Premiere natürlich verbietet, schwierig.

Immerhin kann man in den Briefen an Cecil schon mal die eine oder andere Frage stellen. Zur Stellungnahme wurde man schließlich aufgefordert. So wirklich diskutieren will Cecil über männliche Gewaltbereitschaft nicht, so hat es zumindest den Anschein, muss doch die Geschichte des Stücks - eine travestierende Replik auf das Dramatis Persona von Kleists sowie seine Erzählung „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“- von den Rändern her erzählt werden. Das gelingt glänzend, die am heimischen Tisch zu erarbeitenden Psychogramme von gewaltbereiten Attentätern entstehen im Briefwechselverfahren.

Wir dürfen in vier Briefen ganz analog die heimische Umgebung zur Bühne machen. Die Ausstattung hat hierfür charmant kleinteilig und organisationsstark allerlei Requisiten bereitgestellt. Eine aufklappbare Pappkirche, hinter der sich beigelegte Teelichter entzünden lassen. Wunderkerzen brutzeln und funkeln. Eine Telefonnummer, einen Code oder einen Datenstick mit musikalischer Begleitung gilt es zu aktivieren, während der Salbei qualmt, Knallbrause wie Feuer (im Mund) knistert und die Luftschlange sich um den Langhals windet.

Wobei, so der eigene Eindruck, sich schummrig schöne Atmosphäre mit Kerzen, Musik und laut gelesenen Passagen am Tisch merklich besser als „privater Theaterabend“ herstellen lässt als finaler szenischer Frohsinn.

Originelle Theaterform

Ein wenig trostlos bleibt es - zumindest für den Solobesucher der eigenen Vorstellung - trotz heißen Bemühens dann doch, aber originell und den Versuch wert, war es allemal. Und - auch das war der Plan - man liest, deklamiert, blättert und zündelt. So viel analoges Erleben bei gleichzeitiger Streaming- und Zoomfreiheit hatte man im Theater selten. Zumindest in den vergangenen zwölf Monaten …

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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