Mannheim. Die Tradition, dass einmal pro Jahr das Tanz-Ensemble des Mannheimer Nationaltheaters in der „Choreografischen Werkstatt“ selbst kreativ wird, reicht bis in die 90er Jahre zurück und ist eine Erfolgsgeschichte. Alle, die wollen, dürfen sich choreografisch ausprobieren, können testen, inwiefern sich Ideen umsetzen lassen.
Vor allem aber haben sie das perfekte „Material“ zur Hand: Nämlich alle anderen Kollegen und Kolleginnen, die – wie das auf hohem Niveau stehende Ensemble von Ballett-Intendant Stefan Thoss – in der Lage sind, sich auf jede gewünschte Körpersprache einzustellen. Seit Juli haben jeweils fünf Tänzerinnen und Tänzer aus der 20-köpfigen NTM-Compagnie den Ausflug auf die andere Seite ihrer Kunst gewagt. Herausgekommen sind zehn ganz unterschiedliche Werke, denen eine exzellente Umsetzung auf dem Tanzboden gemein ist.
Familiäres Flair und Nähe zum Publikum
Der liegt für Proben und kleinere Aufführungen schon seit Jahren im Tanzhaus in Käfertal, doch das ist während der Sanierung des Hauses am Goetheplatz nun ein Haupt-Schauplatz. Dafür wurde die Zuschauer-Tribüne erweitert und eine neue Beleuchtung eingebaut. Geblieben sind das familiäre Flair und die Nähe zum Publikum. Das bedankte sich nach zwei Stunden reinen Tanzprogramms mit von Jubel durchsetztem lang anhaltendem Beifall. Freudestrahlend kassierte das Ensemble, das ohne ihren noch nicht wieder von Corona genesenen Chef Thoss auskommen musste, den Lohn für einen vielseitigen Abend.
Den gab in „Close, but no Cigar“ allerdings nicht. „Knapp vorbei ist auch daneben“, könnte man die aus dem Amerika der 20er Jahre stammende Redewendung übersetzen, die Luis Tena Torres zu einem Stück über unerfüllte Ziele inspirierte. Interpretiert wurden diese eher negativen Gefühle von Sasha Samion, Lorenzo Angelini, Lorenzo Terzo, Sylvia Cassata und Joseph Caldo. Um Heimweh, Sehnsucht und Erinnerungen dreht sich das melancholische „Where the sea and the snow meet“, das Alexandria Chloe Samion sich selbst auf auf den Leib schrieb. Ihre Inspiration war das Gedicht von Octavio Paz „Wind, Water, Stone.“
Ebenfalls ein Gedicht (von Rasha Rushdy) war die Ausgangslage für das gleichermaßen beeindruckende und bedrückende „Who am I now?“ von Julia Headley. Auf einem Video-Film stellt sie sich diese Frage in den verlassenen Katakomben des Alten Volksbades in der Neckarstadt West. Denn sie fühlt sich schuldig, weil überfordert, hin- und hergerissen zwischen eigenen Wünschen und familiären Ansprüchen.
Doch Headley kann auch positiv. In „This way or that way“ nutzt sie anschaulich den Fünf-Viertel-Takt von Dave Brubecks „Take Five“, um acht Menschen (Cassata, Arianna Di Francesco, Smaion, Reiko Tan, Emma Tilson, Lorenzo Angelini, Torres, Pascal Schut) aus einem eintönigen Alltag heraus neue, Freude weckende Wege finden zu lassen. Die zeigen dass „wir in einer wunderbaren Welt leben, in der wir die Freiheit haben, diesen oder jenen Weg zu gehen“, sagt die Choreografin.
Innere Zerrissenheit mit Hilfe von Stroboskop-Scheinwerfern thematisiert Lorenzo Terzo in „Bi-Polar“. Ein runder Tisch mit drehbarer, glänzender Platte ist der Dreh- und Angelpunkt für Tilson, Stepusin, Caldo und Torres, sich über Gefühle des gleichzeitigen Hassens und Liebens klar zu werden.
Geschlechtsspezifische Inhalte
Geschlechtsspezifischem Verhalten geht Tilson in „Mind the Gap“ auf den Grund. Ihre Protagonistinnen Cassata, Paloma Galiana Moscardo, Jessica Liu und Stepusin zeichnen in einer immer mehr Selbstbewusstsein ausdrückenden Körpersprache ein Gegenbild zur männlichen Perspektive der Welt. Die wird mit viel Macho-Charme vertreten Angelini, Albert Galindo, Schut und Terzo. Für das Zusammenspiel von Sein und Zeit interessieren sich Liu und Galindo in „After the Present“. Man nehme eine Dreier-WG mit zwei temperamentvollen, aufgedrehten Streithähnen und einem Ruhepool (Angelini, Caldo, Galindo) und schon entwickelt sich ein von Leonardo Cheng entwickelter lebendiger Austausch, den er „Coconut water shines like Diamond (Sk)eyes“ nennt.
Humorvoll und mit einem Augenzwinkern verarbeitet Zoulfia Choniiazova in „Trio Pathetique“ auf die gleichnamige Musik von Mikhail Glinka den Machiavelli-Ausspruch „Jeder sieht, was Du scheinst. Nur wenig fühlen, wie Du bist“. Das Trio trägt schwarze Schulmädchenkleider und blonde Perücken, tanzt nahezu identisch. Allerdings überragt Cheng seine beiden Kolleginnen Moscardo und Liu um mindestens zwei Köpfe. In seiner fassbaren Leichtigkeit ein Höhepunkt des Abends. Ebenso begeistert beklatscht wurde „Klan“ von Lorenzo Angelini, in dem Torres und Caldo mit überbordendem Temperament den Beweis antreten, dass Gegensätze sich anziehen.
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