Mannheim. Wie geht ein junger Regisseur ran an „seinen“ fragmentarischen Dramenstoff namens „Woyzeck“ von Georg Büchner? Erwartungen werden vor der Premiere im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim geweckt, denn die Inszenierung wolle Bezüge zum Heute etwa in Sachen Verschwörungstheorien herstellen und auch textlich eigene Bausteine zuliefern. Da hat Regisseur Branko Janack denn doch die Finger davon gelassen und einen weitgehend unversehrten „Woyzeck“ auf die Bühne gebracht.
Georg Büchner
- Georg Büchner wurde am 17. Oktober 1813 in Foddelau bei Darmstadt geboren und starb am 19. Februar 1837 in Zürich.
- Sein Vater war Arzt, und Büchner studierte Medizin in Straßburg und Gießen. Er promovierte mit einer Arbeit über das Nervensystem der Barben.
- In den revolutionären Wirren Hessens wuchs sein Revoluzzer-Geist, er war Mitgründer einer Gesellschaft für Menschenrechte.
- Sein Stück „Woyzeck – Ein Fragment“ gilt als Aufschrei einer gequälten menschlichen Kreatur und Büchner als Vorbereiter des literarischen Expressionismus.
- Georg Büchner starb nach einer Typhus-Erkrankung, zuvor hatte er schon eine Hirnhautentzündung mühsam überstanden.
- „Woyzeck“ wurde von Alban Berg als Opernstoff verwendet.
- Die bekannteste Film-Adaption ist Werner Herzogs „Woyzeck“ aus dem Jahr 1979, in der Klaus Kinski die Titelrolle übernahm.
Klar, dass er aus den verschiedenen Fassungen des Fragments sich die Freiheit nimmt, Szenen umzustellen. Wie Büchner seinen im Typhus-Fieberwahn mehrfach überarbeiteten Text auf der Bühne sehen wollte, bleibt ungewiss. Erst ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod kam „Woyzeck“ zur Aufführung. Es bleiben einem Inszenierungsteam Freiheitsgrade, die jedoch bei einem so tiefgründigen, immer neu zu denkenden Psychodrama sparsam ausgeschöpft werden sollten.
Was ist heutig am visionären Text dieses Autors, Arztes, Revoluzzers? Die Erniedrigung eines Individuums und dessen tragischer Untergang sind ebenso zeitlos wie die daraus erwachsene Unausweichlichkeit unglückseliger Verstrickungen. Aber auch die verheerende Negativbilanz von Macht gegen Ohnmacht, gesellschaftlichem Rang gegen Unterwerfung, Liebe gegen Ausweglosigkeit sind gerade in einer Zeit immanent, die gesellschaftliche Probleme durch strahlende Bilanzen übertüncht. Also: Büchner ist aktuell, auch ohne mit dem Holzhammer Aktualisierungen draufzuschlagen, denn der Text ist stark, spricht für sich selbst. Kleine Freiheiten, etwa wenn aus dem Hauptmann eine Frau Hauptmann wird, oder Marie sich in religiöses Memorieren flüchtet, oder die Schaubuden-Szene am Anfang steht, scheinen der Inszenierung sogar aufzuhelfen.
Es regt also an zum „Nachdenktheater“, das Branko Janack einfordert. Was deshalb leicht fällt, weil die Darstellung im Studio Werkhaus einerseits unverstellt, ja unbefangen daherkommt, andererseits aber in der stringenten Personenführung sehr viel Tiefgang erfährt. Die Figuren werden differenziert gezeichnet und entwickeln dadurch starke Eigendynamik. Allen voran Woyzeck, dem Christoph Bornmüller die Züge eines in sich gefangenen Menschen gibt, der quasi schleichend immer mehr ins Unglück stürzt. Seine Versuche, sich aus Verstrickung und Ohnmacht gegenüber den Herrschenden zu befreien, laufen ins Leere. Wer einmal unten ist, den tritt die Gesellschaft noch mehr nieder. Zum Beispiel der Herr Doktor, der in Arash Nayebbandi einen herrischen Medizinmann findet, der eigene Inkompetenz durch unbeherrschtes Auftreten kompensiert. Büchner hat mit dieser Figur einem seiner Straßburger Professoren ein negatives Denkmal gesetzt, und es ist erlaubt, Parallelen zu ziehen, wenn Doktor Allwissend nur sein eigenes, verengtes Fachgebiet im Blick hat. Auch der Tambourmajor wird in Mannheim typisiert, denn Leonard Burkhardt spielt ihn als Kraftprotz wie frisch aus der Mucki-Bude, den außer seinen Muskeln nicht viel interessiert. Aber so ist das Leben: Einer definiert sich über seinen Körper, ein anderer über den Status, der Dritte über seine Bildung und ein Vierter über seine Wahnvorstellungen.
Der Bühnenraum von Cleo Niemeyer-Nasser rahmt das Dunkel, in dessen Abgründen sich die menschliche Seele verirren darf, mit senkrechten, verengenden Lichtröhren, die symbolisch für das Gefangensein in sich selbst stehen mögen. Hierin bewegt sich Marie, der Verena Jost eine starke Aura mitgibt. Diese Frau, ganz in Schwarz (passgenaue Kostüme: Una Jankov), will eigentlich sie selbst sein, nicht zum Spielball irgendwelcher Männer werden, hinterfragt den Begriff Sünde, den die damalige Gesellschaft als Totschlagargument verwendete, und spielt mit nahegehender Präsenz.
Frau Hauptmann ist mit Ragna Pitoll besetzt, die Figur im Hosenanzug scheint zu genießen, wenn ein kriecherischer Woyzeck ihr die Beine rasiert. Individuell gestalten Omar Shaker (Ausrufer einer Schaubude/Karl) und Eddie Irle (durchaus mitfühlender Andres) ihre Rollen. Sie werden gestützt und getragen durch die illustrierenden Bühnenmusik von Max Nübling, die feine Lichtführung von Ronny Bergmann.
Fehlt dieser Woyzeck-Produktion die Tiefe? Aber, was ist schon „Tiefe“? Einige Elemente der Groteske lockern auf, die zeitlose Gültigkeit dieses Fragments wird frappierend deutlich. Also alles gut.
Neben dem herzlichen Beifall noch eine weitere gute Nachricht: Das Casino ist wieder offen, der durstige Theatergänger darf sein Bier konsumieren.
Termine: 22., 23. und 25. 10., 4. und 11. 11.; Karten: 0621/1680150
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-woyzeck-im-studio-werkhaus-in-mannheim-unbefangen-und-dennoch-stringent-_arid,2009667.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html