Mannheim. Diese Frau gehört einfach nach Mannheim. Sie schlüpfte hier nicht nur als Theaterfigur aus des Dichters Denkerhirn. Kaum vom Papier zum Menschen gewandelt, trat sie auch sehr früh allhier auf. Luise Miller heißt die Musikertochter bei Schiller und wäre 1784 - nur zwei Tage nach der Frankfurter Uraufführung - unter diesem Namen auch auf die Nationaltheaterbühne gekommen, hätte der erfahrene Mannheimer Theaterpraktiker August Wilhelm Iffland dem jugendlichen Dichter nicht den fraglos schöneren Titel „Kabale und Liebe“ aufgebunden.
In Mannheim nimmt man Luise Millerin also ernst. Und Shirin Ali hat Glück, dass auch Charlotte Sprenger als Regisseurin der Eröffnungspremiere dies tut. Ein Glück, das die junge Mimin an diesem großen wie grellen Eröffnungsabend im Alten Kino Franklin nicht mit allen Kollegen teilt. Diese Luise ist ein lebenskluger wie weitsichtiger Ruhepol im ständigen ständischen Ränkespiel um eine unerlaubte Liebe über gesellschaftliche Grenzen.
Schillertage in Mannheim: Eröffnung mit doppelter Kabale
Eine solche wird am Tag der Eröffnung der 23. Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim zuvor auch im Theaterhaus G7 verhandelt, wo die Uraufführung der deutsch-indischen Koproduktion „Still I Choose to Love“ ebenfalls lose auf Schillers bürgerlichem Trauerspiel fußt. Die Standesgrenzen sind hier von Lakshman KP auf die des indischen Kastenwesens übertragen. Begrüßt in der Filsbach Kulturbürgermeister Thorsten Riehle jovial, tut es Oberbürgermeister Christian Specht auf Franklin nicht minder herzlich. Die Stimmung ist hier wie da gut, es gibt sogar Begrüßungsapplaus für Festivalleiter und Schauspielintendant Christian Holtzhauer, von dem sich der OB humorig gerne etwas abzwackt.
Die 23. Internationalen Schillertage
- Das seit 1978 alle zwei Jahre stattfindende Festival, das mittlerweile Internationale Schillertage heißt, soll das Werk sowie künstlerische und philosophische Ideen des deutschen Dichters, Dramatikers und Historikers Friedrich Schiller (1759-1805) am Nationaltheater Mannheim und darüber hinaus weitertragen.
- Friedrich Schiller gilt als erster „Hausautors“ des Mannheimer Nationaltheaters, seit dort am 13. Januar 1782 sein Drama „Die Räuber“ uraufgeführt wurde. In der Folge entstanden verschieden Werke Schillers ganz oder teilweise in Mannheim.
- Die 23. Auflage der Schillertage läuft noch bis 29. Juni . Sie bieten Gastspiele, Gespräche, Lesungen, „Stadterkundungen“, Partys, Performances, Vorträge und „Schill-out-Konzerte“.
- Karten und Info: www.nationaltheater-mannheim.de, Telefonisch unter 0621-1680-150.rcl
Gute Laune ist wichtig. Auch oder gerade im Theater. Nicht nur weil man mit Blick auf die Weltlage unter allen Umständen Unterhaltung bieten wollte, sondern weil auch hier die Baustellen größer und die Förderquellen kleiner zu werden drohen - und gute Stimmung daher begehrt ist. Der Empfehlung des Intendanten, der Kraft der Kunst zu vertrauen und diese nun zehn Tage lang zu feiern, folgen Honoratioren und Publikum somit fraglos gerne.
Der entspannte Wurm und andere Zoten
Gehen wir zurück in den deutschen absolutistischen Kleinstaat, dem ein recht skrupelloser Herzog vorsteht und dessen räumliche Lebenswirklichkeiten Aleksandra Pavlovic in ein quietschbuntes zweigeschossiges Puppenhaus übersetzt hat.
Dort lebt, musiziert und unterrichtet der Musikus Miller, hier eine alleinerziehende Geigerin (Ragna Pitoll). Auf deren schöne Tochter Luise trifft hier der smarte Sohn Ferdinand (Bruno Akkan) des zweiten Mannes im Staate, Präsident von Walter, den Boris Koneczny groß und schamlos anlegt. Seine Fähigkeiten als Intrigant und Mörder sind bekannt, seine menschlichen Qualitäten blitzen nur auf, wenn ein privater Plan nicht aufgeht. Zum Zeitvertreib treibt er es mit seinem Sekretär Wurm (Eddie Irle). Statt nackender Wonnestunden gibt es nur abgeschmackten postkoitalen Business-Talk - „Das frühe Vögeln entspannt den Wurm“, aha.
Überhaupt spielen erotische Verwicklungen und sexuelle Lesbarkeiten eine große Rolle. Die genderfluide Libertinage ist hier übrigens weniger politisch korrekt als man meinen möchte, dient sie doch vielmehr als fragwürdig dekoratives Stilmittel zur Beschreibung abgeschmackter Dekadenz. Hofmarschall von Kalb (Rahel Weiss) ist eine clowneske Marschallin auf dem komödiantisch gelungenen, aber eben schmalen Weg zur Knallcharge und muss aber hinterher mit aufgeklebtem Bart an Luise ran. Die Intrige zur Beziehungsvermeidung läuft an.
Briefe schreiben war gestern, heute wird alles abgefilmt. Auch das Theater. Hier, im Alten Kino, haha, findet es (trotz vorhandener Drehbühne) im Verborgenen statt und wird per Live-Kamera im oberen Bühnenteil zum Kino- oder Fernsehabend vor Publikum.
Zwischen Almodóvar und Barbie
Zu sehen ist ein schräger Film voller skurriler Figuren, eine Tele-Novela, ein KI-Comic vielleicht oder gar ein Meisterwerk von Pedro Almodóvar; genug hysterisches Material ist jedenfalls vorhanden, um aus dem bürgerlichen Trauerspiel eine schrille Farce ohne größere Relevanz zu machen. Die kuriosen Kostüme von Aleksandra Pavlovic haben hohen Anteil daran: „It‘s a Barbie-World.“
Zum Glück, man mag es nach all den szenischen Zoten kaum glauben, gibt es auch richtig große Spielszenen. Im Spiel von Shirin Ali etwa mit Ragna Pitoll, die sich vom herrschenden Irrsinn nicht korrumpieren lässt, oder mit Annemarie Brüntjen (Lady Milford), die ihre große Rolle leider immer drei Oktaven über Glaubwürdigkeit spielen muss. Diese ist aber einzig den stillen Helden der unteren Mittelklasse vorbehalten und Eddie Irle und Sarah Zastrau als Zofe schlagen daraus klug Funken. Merkwürdig sind Rhythmus und Gewichtung mit denen die Regisseurin ernsthafte und überzeichnete Szenen aneinandersetzt. Inhaltlich oder dramaturgisch sind sie schwer zu fassen.
Was fängt man an, wenn man mit etwas nichts anfangen kann? Naturgemäß mit Distanz, mit Ironie, Überzeichnung oder gar Sarkasmus. Man beweist damit, dass was man selbst nicht gut findet, auch nicht gut sein kann. Man setzt es herab vom hohen Sockel, macht es banal oder wunderlich oder lächerlich. Mit Schillers „Kabale und Liebe“ ist Charlotte Sprenger dies weitgehend gelungen. Freundlicher Applaus.
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