Kolumne #mahlzeit

Warum wir langsamer fahren und weniger heizen sollten

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Er sei, erzählt Bela unsäglich stolz, letzte Nacht in einer Stunde und elf Minuten vom Stuttgarter Schlossplatz bis zum Friedrichsplatz Mannheim gefahren. „130 Kilometer in 71 Minuten, ich konnte nicht mal Opus 18 und 30 ganz durchhören“, sagt Bela und meint, dass er schneller war, als Rachmaninows Klavierkonzerte Nr. 2 und 3 dauern. Caro rast mindestens so schnell wie Bela. Bei ihr ist es der Puls. „Bist du bescheuert?“, ruft sie Bela ins Gesicht, während sie sich so ein Tofuschnitzelsurrogat reinsteckt und orangefarbene Flüssigkeit hinterher schüttet. „Weißt du doch“, sagt Bela schnippisch.

Also ARD und ZDF wären froh, sie hätten in der Primetime solche Streithammel in einer Daily Soap. Es ist pures Entertainment. „Ich hatte immer Hoffnung, dass du vielleicht doch ein Quantum Aufklärung mitbekommen hast, dass du selbstbestimmt handelst und weißt, was richtig und falsch ist – zumal in der jetzigen Situation“, sagt Caro. Bela: „In der jetzigen Situation?“ Was Caro noch mehr auf die Palme bringt. Sie erzählt nun engagiert von Fatih Birol, dem Chef der Internationalen Energieagentur (IEA): „Der meint, wenn die idiotischen deutschen Asphaltcowboys auf ihren idiotischen Rennstrecken um nur 10 km/h langsamer fahren würden, könnte man 0,5 Millionen Fässer Öl sparen – pro Tag! Mit egoistischen Vollpfosten wie dir geht das leider nicht“, pöbelt sie Bela an, während ich mit meiner Schwäche für Zahlen auf 79,5 Millionen Liter Öl komme und weiß, dass Bela im Schnitt 110 km/h gefahren sein muss und mit 100 km/h 78 statt 71 Minuten gebraucht hätte – ziemlich genau die beiden Rachmaninows. Für die Bahn wäre das nichts. Verspätungen rechnen die längst nur stundenweise ab.

„Dann soll die Politik das doch bestimmen. 100 auf allen Autobahnen. Ich halte mich dran“, sagt Bela. Caro meint, die Überholspurpartei FDP (Freie Deutsche Pkw-Fahrer) regiere halt auch, aber jeder einzelne könne was tun, „es braucht Maximen, nach denen wir moralisch handeln, um das Schlimmste zu verhindern“, sagt sie. „Vergiss es“, meint Bela, „alle Menschen sind so doof wie ich. Wenn sie rasen dürfen, dann rasen sie. Das Klima. Die Putinesen. Der Krieg. Alles egal. Sie werden auch heizen, bis das Gas weg ist. Die Politik muss das machen. Und du – träum schön naiv weiter!“

Während die beiden streiten, tauche ich ab. Ich will nicht hinnehmen, dass wir von unserer Vernunft in Sachen Klimaschutz oder Russlandsanktionen offenbar nur belästigt werden, während die Umsetzung der Vernunft in einen praktischen Willen offenbar alles Vermögen derselben Vernunft übersteigt. Ich will nicht Teil der unvernünftigen menschlichen Schicksalsgemeinschaft sein und bestelle mir jetzt schon mal einen extrawarmen Troyer, so’n Seemannspulli. Der IEA-Typ hat ja auch gesagt: „Wenn wir in Europa in diesem Winter die Temperatur in allen Wohnungen um zwei Grad senken, dann sparen wir 20 Milliarden Kubikmeter Gas.“ Das entspricht in etwa der Menge von Nord Stream 1. „Hey, du hast mir meine Hose versaut“, höre ich Bela noch, dann tauche ich wieder in meine Gedankenwelt ab.

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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