Kolumne #mahlzeit

Tangiert der Antisemitismus-Skandal auf der Documenta die Kunstfreiheit?

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Jetzt haben die Idioten die ’Volksjustiz’ endlich abgebaut. Nachdem sie es davor noch verhüllt haben – Gott, als sei das ein wertvolles denkwürdiges Ding, an das wir ein Leben lang denken sollen – wie der verhüllte Reichstag von Christo oder Adams und Evas primäre Geschlechtsmerkmale.“

Alya: „Die Was?“

Bela: „Warst du beim Friseur?“

Alya: „Sexist! Ihr seid alle gleich. Aber ich hab’ dich was gefragt: Die Was haben sie abgebaut?“

Bela beginnt von der Documenta zu reden und von den antisemitischen Figuren auf dem Schlachtengemälde „People’s Justice“. Er erklärt, dass das Aufhängen des Werks der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi schon der Mount Everest an Peinlichkeit gewesen sei, dass die Bergtrupps der Documenta aber im Himalaya der Peinlichkeit einen noch höheren Gipfel entdeckte: die Adelung durch Verhüllung. „Versteht ihr denn nicht? Wenn ich etwas verhülle, ist es immer noch da, unter der Hülle, in unseren Köpfen, es erhält noch mehr Wert! Man hätte es sofort abhängen müssen und verbrennen“, so Bela, der es sicher nicht so meint, wie er es sagt.

„Na, na, na, und was ist mit Artikel 5, Absatz 3 GG!“, hängt Alya ihr juristisches Staatsexamen raus. „Wie alle Freiheit“, schalte ich mich ein, „muss auch die der Kunst enden, wo sie die Freiheit der Anderen angreift oder sie gar beleidigt. Die Darstellungen sind gegen Juden gerichtet und spielen mit üblen Klischees. Das können wir in Deutschland, gerade in Deutschland, nicht dulden.“

„Na dann können wir uns das Markenzeichen der westlichen Welt bald abschminken – wenn wir die Freiheit immer, wenn sich irgendwo jemand angegriffen fühlt, kassieren“, meint Alya, „ich meine: Die Gesellschaft wird immer diverser, die kleinsten Gruppen gewinnen an Wichtigkeit. Man muss doch auch was aushalten können. An einem geldgierig-geifernden Papst würde man sich sicher erfreuen. Aber die armen Katholiken haben ja auch einfach keine Lobby mehr.“

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Juden, meint Bela, hätten das Recht, nichts mehr aushalten zu müssen, denn das Leiden-Aushalten-Konto sei seit Jahrtausenden übervoll, da sei kein Raum mehr.

Aber sei es nicht fatal, fragt Alya, dass man sich als deutsches Kunstland öffnen wolle, dass man wolle, dass der Rest der Welt vor allem im globalen Süden sich – ja, auch in Kassel – frei künstlerisch artikuliere, dass man auch Leute aus postkolonial geprägten Ländern einlade, ihre Sicht der Dinge darzustellen – und sobald uns die Sicht nicht gefalle, maßregelten wir sie und sagten: „Sorry, das geht nun wirklich nicht, das ist nicht in unserem Sinne, du darfst dich gern ausdrücken und deine Meinung sagen, solange deine auch unsere Meinung ist. Das ist doch wieder pure Arroganz!“, so Alya.

„Du redest totalen Quatsch“, sagt Bela. „Wer, fragt Alya, sagt denn, dass das Werk antisemitisch ist?“ Bela: „Alle!“ „Ich sag’s doch, Deutschland ist eine analoge Blase, in der die deutsche Volksjustiz die indonesische ’Volksjustiz’ verbietet“, so Alya. Ehrlich gesagt: Da fällt mir nichts mehr ein. Ich hülle mich in Schweigen (und möchte dadurch alles, nur nicht geadelt werden).

Schreiben Sie mir: mahlzeit@mamo.de 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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