Mannheim. David Julian Kirchner ist einer der spannendsten Absolventen der Mannheimer Popakademie. Seit 2018 hat er eine Art popkulturelles Marvel-Universum geschaffen – mit zwei Alben, Ausstellungen, Grafiken, Comics, einer Doku-Reihe und verschiedenen Rollen. Erst als Konzern-Chef (Kirchner Hochtief), zuletzt mit Arbeiterliedern mit der Quasi-Gewerkschaft IG Pop. Das hat ihm ein breites Echo und höchstes Lob in den – zumindest einstmals – wichtigsten Musik-Gazetten der Republik gebracht. Ansonsten wenig. Materiell ist der hochbegabte Sänger, Songwriter und Produzent viel näher an Existenzminimum und Bürgergeld als am Bentley in der Popstar-Villengarage. Das führt zu einem Aufschrei, optisch im Stil linker Bewegungen der 60er und 70er Jahre: Mit Blick auf den Tag der Arbeit am 1. Mai veröffentlicht der 40-Jährige „Das IG POP Manifest der Prekari-Art“ (hier zum Download), um auf die prekäre Situation von Musikschaffenden aufmerksam zu machen, die ihre Kunst nicht an kommerziellen Zwängen digitaler Verwertbarkeit ausrichten wollen.
Der Text beginnt mit einer provokanten Zustandsbeschreibung, den viele noch nicht etablierte und zuletzt extrem unzufriedene Kreative in der Unesco City of Music sofort unterschreiben würden: „Hinter dem Schein reichweitenstarker TikTok-Stars und unter dem Staub hypersubventionierter staatlicher Theater- und Orchesterbetriebe befindet sich eine Unterschicht“, schreibt Kirchner, „eine sich abstrampelnde Substanz an Idealisten, die mit E-Gitarren und Laptops versuchen zu überleben.“
Viele Grundsatzfragen
Kirchner stellt Grundsatzfragen. Ist Pop Arbeit? Natürlich. Nur: „Wer vertritt die Poparbeiterklasse?“ Kirchner wettert gegen „Narrative von brotloser Kunst und Geniekult“, die sich penetrant hielten. Gegen die Rechteverwerter der GEMA, die Musik „immer noch stur und naiv in die Lager ,Ernst’ und ,Unterhaltung’“ teilten. Entnervt fragt das selbst ernannte „Boyko-Tier“: „Wo ist endlich ein zeitgemäßer Weg für zeitgemäße Kunst, abseits marktradikaler Euphorie und staubiger Antrags- und Subventionslogik?“ Jede kreative Aktivität werde von einem gigantischen Mehr an unkreativer Aktivität begleitet: „Folgen, Liken, Posten, Beantragen, Erklären, Kalkulieren bis man dann, jeglicher Inspiration beraubt, der eigentlichen Arbeit – Kunst schaffen – nachgehen kann“, klagt er.
Zur Person, zum Manifest, zum Konzert im Capitol
- David Julian Kirchner wurde am 16. September 1982 in Mainz geboren. Seit 2009 lebt er in Mannheim, wo er die Popakademie absolvierte.
- 2018 veröffentlichte er als Konzern Kirchner Hochtief die Platte „Evakuiert das Ich-Gebäude“. Flankiert von einer Ausstellung im Port25, die das Album begehbar machte. 2022 folgte das Kontrastprogramm: Arbeiterlieder auf dem Album „IG Pop“.
- Daran knüpft das hier vorgestellte Manifest an, das auf der Homepage dieser Redaktion und ab 1. Mai über davidjuliankirchner.de abrufbar ist. Dazu erscheint eine neue Version von „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“.
- Am Freitag, 19. Mai, 20 Uhr, spielen David J. Kirchner & die IG POP in der Reihe „CIN//CIN// wild & lokal“ und die Band Kabinett im Mannheimer Capitol. Karten unter eventim.de (13 Euro plus Gebühren).
Das geschehe dann zu so schlechten Bedingungen und geringen Honoraren, dass man nicht einmal von Ehrenamt sprechen könne: „In vielen Fällen verdient man nichts (...) Dauerstudentenlifestyle, Hartz 4 als Stipendium, Toast mit Scheiblettenkäse als Lebensmotiv. Der Pop-Beruf ist ein teures Hobby.“ Die Seitenhiebe auf die Struktur der Musikstadt Mannheim hat der sonst gern brachiale Bilderstürmer eher mit dem Florett zwischen die Zeilen geritzt. In der Konzeptionsphase des Manifests liebäugelte er noch mit radikaleren Formulierungen. Etwa der Idee, die Unesco-Urkunde zur Aufnahme ins Netzwerk der Citys of Music aus dem Mannheimer Rathaus zu entführen. Kämpferisch wird der Duktus des Manifests trotzdem: „Wir sind keine Dienstleister! (...) Wir sind keine Aushängeschilder! (...) Wir streben nach
Bedeutung, nicht nach Fame!“
Die etablierte Kulturförderung ist für ihn überholt: „Wieso wird den sogenannten freien Szenen jeder Cent umgedreht, während die großen Häuser mit Geldern teilweise dermaßen verschwenderisch umgehen, dass einem schwindelig wird?“ Seine Forderung: „Subventionierte Kulturinstitutionen wie Staatstheater und Orchester müssen uns teilhaben lassen, ihre Spielräume für uns öffnen, Zugänge zu ihren Ressourcen und Strukturen schaffen.“ Seine Ideallösung: das bedingungslose Grundeinkommen für alle.
„Weg mit dem Antrags-Sudoku!“
Das Beantragen von Fördermitteln sei „eine Art hyper-bürokratisches Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, dessen Regeln sich darauf beschränken, geschickt Buzzwords (interdisziplinär, inklusiv, nachhaltig) aneinanderzuhängen und dabei der Agenda des ausschreibenden Kulturbetriebs möglichst hochgestochen nach dem Maul zu reden. Schluss mit dem Antragssudoku!“, fordert der gebürtige Mainzer und plädiert für langfristige Unterstützung – keine nur projektbezogene. Diesbezüglich bedient in Kirchners Band IG POP hintersinnigerweise geballte Verwaltungskompetenz die Synthesizer: Thilo Eichhorn, der bis Ende 2022 beim Kulturamt zuständig für die Musikförderung war.
Ohne Habitate, in denen mit den Mitteln von Pop und Kunst frei geforscht, experimentiert und kreativ gearbeitet werden könne, passiere Folgendes: „Dann ruft die Gewerkschaft auf zum großen Pop-Streik und wir überlassen euch dem degenerierten Maul von ChatGPT und seinen Freunden! Und die spucken euch dann in Dauerschleife einen generischen Pop ins Gesicht, gegen den Bohlen und sein DSDS wirken werden wie richtig geile Kunst.“
Als Markenzeichen hat der Heidelberger Grafikkünstler Maxwell Hathaway Kirchner einen roten Pfeil designt. Eine Version des Manifests riecht selbst als pdf-Datei fast wie die Matritzen-Papiere, auf deren Basis sich einst linke Gruppierungen wie der Rote Splitter die Köpfe heiß redeten. Popkulturell erinnert das nicht von ungefähr an die Bewegung Red Wedge. Angeführt von Polit-Songwriter Billy Bragg, Britpop-Pionier Paul Weller (The Jam, The Style Council) und Ex-Bronski-Beat-Sänger Jimmy Somerville wollte das Musikerkollektiv in England ab 1985 die Labour-Party unterstützen, um die konservative Regierung von Margret Thatcher abzuwählen. Was 1987 misslang.
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