Heidelberg. Popstar-Jubel im noch neu riechenden Konzertsaal, als Cora Malik am Freitagabend die Bühne betritt. Der Geschäftsführerin des neuen Karlstorbahnhofs (KTB) im Heidelberger Süden ist nach zwölfjährigem Prozess voller Debatten, Fortschritten und Rückschlägen sowie einer Investition von 20 Millionen Euro in die frühere Reithalle mit militärischer Vergangenheit die Erleichterung anzusehen: Endlich ist sie mit ihrem Team (und das auch noch fristgerecht) im neuen Domizil auf dem Gelände der früheren Campbell-Us-Kasernen angekommen. „Es ist uns eine unbändige Freude, euch und sie hier begrüßen zu dürfen“, sagt sie zu Beginn der festlichen Eröffnung. Die Freude ist wechselseitig: Der große Saal ist voll mit jubelnden Menschen. Erst Stunden zuvor hat sie ihn zum ersten Mal bestuhlt gesehen.
Beeindruckender Sound
Der neue Saal ist aber nicht nur größer und aufnahmefähiger. Schon bei den ersten Klängen des Berliner Electro-Duos Two Lanes wird klar: Für Konzerte sind die Bedingungen nahezu perfekt. Anders als im ewigen Provisorium am Rande der Altstadt, das nun mal wie der Name schon sagt ein Bahnhof war, ist der Sound überall knackig, dynamisch und warm - ein Traum für Tontechniker. Dabei ist die Holzverkleidung der Wände wegen der zurzeit üblichen Lieferschwierigkeiten noch nicht einmal komplett, teilweise musste noch abgehangen werden. Egal. Denn auch die Zeiten sind vorbei, wo freie Sicht bei vollen Shows im KTB an vielen Stellen für Leute unter 1,80 Meter Glückssache war. Die Bühne kann man hoch- und runterfahren, Transporter können von hinten quasi direkt an eine Rampe gelangen – ein Traum für Bühnentechniker.
Das sind fast Laborbedingungen, auch für aufwendige Produktionen. Im guten, ja fast idealen Sinne. Zusammen mit dem Saalklang könnte das viele Acts anziehen, die durchaus mehr als die 713 (vorher 600) Stehplätze (bestuhlt: 462 inklusive fünf Rolli-Plätzen, zur 220) bespielen könnten. Zumindest, sobald sich die Lage im Tourbetrieb ab Frühjahr 2023 hoffentlich wieder normalisiert. Von den illustren politischen Gästen der KTB-Eröffnung bis hoch zur Bundespolitik ergreift Oberbürgermeister Eckart Würzner danach als Erster das Wort: „Großartig, dass dieser Traum von so vielen Menschen jetzt wirklich Räumlichkeiten hat, die eine echte Perspektive bieten.“ Auch für die Entwicklung des Heidelberger Südens.
Denn der KTB ist nicht nur ein bundesweit renommierter Live-Club, sondern beherbergt unter anderem das Karlstorkino, das Theater im Karlstorbahnhof, den Klub K und viele weitere soziokulturelle Projekte, die jetzt ähnlich perfekte Bedingungen vorfinden wie die Popkultur. Im alten Haus konnte kaum etwas gleichzeitig über die Bühne gehen, ohne sich zu stören.
Ingrid Wolschin gewürdig
Wie Malik vergisst auch Würzner nicht, die Verdienste der langjährigen KTB-Geschäftsführerin Ingrid Wolschin zu würdigen, die für ein Kulturzentrum mit besseren Bedingungen über Jahrzehnte gekämpft habe wie eine Löwin. Baden-Württembergs neue Kunstministerin Petra Olschowski und Franziska-Brantner (beide Grüne) führen eine kurze Podiumsdiskussion. Die in Heidelberg heimische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima kennt die schwere Geburt des neuen KTB in allen Details und sagt strahlend: „Solche Orte sind Seelenbalsam in Zeiten, in denen viele Seelen geschunden sind“ - nicht ohne vorher an die Situation in der Ukraine zu erinnern, wie lange werde es wohl dauern, bis dort wieder solche Orte entstünden.
Petra Olschowski weist auf die Besonderheit hin, heutzutage solch ein soziokulturelles Zentrum eröffnen zu können: „Es werden zurzeit eher 40. oder 50. Geburtstage gefeiert.“ Die Ministerin rekapitulierte kurz die Geschichte der Soziokultur seit 1968 und machte generell Hoffnung: Die Kultur könne selbstbewusst sein, sie werde trotz all der Krisen nicht hintenüberfallen. „Ich wünsche dem Karlstorbahnhof, dass dieser riesige Apparat das Fliegen lernt.“
Bedeutung für Demokratie
Cora Malik schlägt in ihrer eigentlichen Eröffnungsrede einen enormen Bogen von Soziokultur zur gefährdeten Demokratie: „Die Eröffnung des neuen Karlstorbahnhofs hier in der Südstadt ist aber nicht nur ein Meilenstein für unser Haus, sondern auch in der Heidelberger Kulturpolitik und für die Soziokultur in ganz Deutschland.“ Das klinge vielleicht etwas großspurig, aber die KTB-Chefin macht schnell plausibel, warum sie das ohne Hemmungen in dieser Deutlichkeit formuliere.
„Als wir angefangen haben, für die Erweiterung zu kämpfen, da ging es um die Existenz des Hauses. Die Kapazitäten wurden reduziert und das alte Haus war technisch sowie baulich nicht mehr zukunftsfähig, es hätte jederzeit zu Ende gehen können. Zu spüren, dass Heidelberg uns damit nicht im Stich lässt, war eine große Erleichterung.“ Doch wenn sie heute das Gebäude betrete und durch die Zentrale, das großzügige Foyer mit Bar und Garderobe, zur Bar gehe, dann wissen sie: „Es ging um viel, viel mehr als nur um den Fortbestand unseres Kulturbetriebs. Wenn wir heute von Kultur reden, dann sprechen wir nicht mehr primär über kulturelle Leistungen, sondern über die soziale Dimension von Kultur. Als gefördertes Haus möchten wir uns dem Auftrag stellen, Menschen durch Kultur zusammen zu bringen, den Austausch zu fördern, Gesprächsräume zu öffnen.“
Im alten Haus war das nicht nur wegen der abgetrennten Eingänge schwierig bis unmöglich. Im neuen Haus sei es möglich, nicht nur vor und nach Veranstaltungen ins Gespräch zu kommen, sondern auch zu den regulären Öffnungszeiten der Zentrale: Mittwoch bis Samstag, 12 bis 18 Uhr. „Mehr Miteinander und weniger Übereinander reden, das ist einer der wichtigsten Vorsätze für alle, denen unsere demokratische Gesellschaft am Herzen liegt. Wir sprechen viel von einer Fragmentierung der Gesellschaft, die eben nicht nur im digitalen Raum stattfindet.“
Gemeinsame Erlebnisse von Kultur könnten diesem Problem entgegenwirken – „und der Karlstorbahnhof ist dazu prädestiniert“, betont Malik. „Denn wir sind kein hierarchischer Kulturbetrieb, sondern ein Geflecht von unzähligen Vereinen und Initiativen, die neben ihren eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Anliegen ein großes gemeinsames Anliegen haben: Gesellschaftlicher Zusammenhalt UND gesellschaftliche sowie kulturelle Vielfalt.“
Dass das keine Sonntagsrede ist, belegen unter anderem die Gebärdensprachdolmetscherinnen am Bühnenrand, die bei allen Veranstaltungen dazu beitragen sollen, dass der neue KTB möglichst inklusiv und barrierearm funktioniert. „Dabei treibt uns immer eine ganz entscheidende Frage um: Wer spricht noch nicht mit und wer hat noch keinen Platz am Tisch. Seit Jahren beschäftigen wir uns intensiv mit Diskriminierung, denn die Teilnahme am Kulturleben als Künstler*innen, Entscheider*innen und Besucher*innen wird vielen Menschen immer noch strukturell erschwert – auch bei uns.“ Ihr Plädoyer für Vielfalt, gemäß den ausformulierten Grundsätzen des KTB, erntet intensiven Szenenapplaus.
Einladung an neue Partnerinnen
Alten und neuen Kooperationspartnerinnen und –partnern bietet die KTB-Chefin sie an, die großzügigen Potenziale des KTB zu nutzen: „Das neue Haus bietet uns also ganz neue Möglichkeiten, unserer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen.“ Es sei technisch und baulich nicht nur zukunftsfähig, sondern setze über Jahre hinweg Maßstäbe.“ Und dann macht sie den Punkt, warum das alles weit über Heidelberg hinaus so große Bedeutung habe: „Wir – und damit meine ich sowohl den Karlstorbahnhof als auch die Soziokultur allgemein – mussten jahrzehntelang dafür kämpfen, dass wir ernst genommen werden. Dass unsere Nöte und Sorgen gehört werden. Dass unsere Existenz gesichert wird.“
Das alte Haus sei ein charmantes Provisorium und eine Art Zwischenstand bei diesem Prozess gewesen, „eine Testphase, ob wir unsere Relevanz beweisen können. Dieses neue Haus hier ist kein Provisorium, es wurde maßgeschneidert für unseren Raumbedarf, für unsere Arbeit, für unser Publikum.“ Das sei eine besondere Dimension: Abgesehen von großen Museen und Theatern gebe es in Deutschland kein vergleichbares Bauprojekt im kulturellen Bereich. „Dass Heidelberg mit uns einen solchen Schritt wagt, erfüllt uns mit Stolz und Dankbarkeit.“
Malik sieht aber auch keinen Anlass, sich jetzt zurückzulehnen: „Es gibt viel zu tun. Wir haben immer noch zu kämpfen mit den Nachwirkungen der Pandemie, die Energiekrise macht auch vor uns nicht Halt und die Öffnung unseres Hauses ist ein dauerhafter Prozess.“ Sie müsse auch heute schon „an den bevorstehenden Doppelhaushalt denken und darum bitten, dass uns ein gesundes Wachstum und eine Verwurzelung an diesem neuen Standort ermöglicht wird.“ Am Ende ihrer teilweise fulminanten Rede hielt Cora Malik mit dem Publikum zehn Sekunden und sprach dann die „magische Formel“: „Der neue Karlstorbahnhof ist eröffnet!“ Erneuter Popstar-Applaus, diesmal im Stehen.
Zentrale und „Didi“ bewähren sich als Party-Orte
Beim anschließenden Sekt bewährten sich die Zentrale und der Marlene-Dietrich-Platz (kurz: Didi) auf Anhieb als hochkommunikativer Party-Ort. Im Saal legen die erst die Dengaboys, dann der vielleicht musikalische DJ der Republik auf: Der international erfolgreiche Heidelberger KTB-Dauergast Move D bringt den Saal endgültig zum Tanzen. Ein Einstand nach Maß, auf den am Samstag unter anderem ein Konzert mit Get Well Soon folgt. Und am Sonntag ein Tag der offenen Tür mit vollem Programm: karlstorbahnhof.de
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