Schwetzingen. Also die Spieler mit der Nummer 2 und der Nummer 3 müssen wir uns merken. Nicht ihrer Dribbling-, Kopfball- oder Antrittskünste wegen. Oder weil sie in dieser Fußballarena sonst irgendwie technisch besonders gut mit dem Ball umgehen können. Nein: Es sind die Liebenden, die Leidenden, die Protagonisten. Nennen wir sie, als Hommage an Kickmajestät CR 7, einfach mal Z 2 und A 3. Außerdem: Die beiden singen echt gut.
Ein sehr vergnüglicher Opern-Abend dank Nigel Lowery
Hä? Also: Nummer 2 ist die schöne Zemira. Die Stimmbänder von Sopranistin Amelia Scicolone verleihen ihr mindestens die Dehnbarkeit von Ronaldos Kreuzband und lassen sie - etwa in den virtuosen Kapriolen des Duetts am Ende von Akt III - schon mal locker in die Flutlichthöhen des dreigestrichenen d emporschweben. Dort trifft sie sich zum A-Dur-Kopfball mit Nummer 3, Azor. Azor, das in einen schönen Prinzen zurückverwandelte Biest, lässt Tenor Patrick Kabongo Phrasen singen, die die Schönheit von Beckenbauers Flanken und die Eleganz von Pelés Ballkontrolle haben. Außerdem beherrscht er das Dribbling mit Zweiunddreißigstelnoten wie kein anderer bei diesem Spiel.
Aber Schluss mit Kicken, schließlich ist dies Oper nach dem Motto: Let me entertain you! Nigel Lowery, Brite, der bei diesem am Ende sehr vergnüglichen Opernabend wie immer für Regie und Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, reichert André-Ernest-Modeste Grétrys Opéra-comique über knapp drei Stunden ganz allmählich mit schrillen und märchenhaften Absurditäten bis hin zum finalen Match mit kunterbuntem Cheerleader-Spektakel an.
Das Ganze wird psychopathologisch -Grétry hat eben ein Märchen geschrieben
Dabei ist sein Spiel mit Risiko. Denn nach Akt II entlässt er uns mit vier trockenen G-Tupfern (die auch die exzellente Akademie für Alte Musik Berlin unter Bernhard Forck nicht ganz zusammenkriegt) noch eher gelangweilt in die Pause. Grétrys Musik ist wirklich schön. Sie pulsiert. Sie erzählt. Sie will uns unter die Haut. Aber es ist eben nur ein Wollen, dem Lowery trotz einiger hübscher Bilder mit Zemiras Schwellkopf und dem bemalten Vorhang als Regiezentrum wenig Substanzielles oder auch nur Unterhaltsames hinzuzufügen hat.
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Und das ändert sich eben in Akt III radikal. Gleich beginnt Lowery mit Zitaten aus Mythologie und Märchen. Da ist Azor, der seinen (haarigen) Makel in Form eines Felsbrockens immer wieder hinter den Vorhang schiebt, worauf er zeitgleich auf der anderen Seite wieder auftaucht; ein Sisyphos, der die Philosophie des Absurden liebt. Bald darauf bevölkern putzige Zwerge (die sich nackt ausziehen und böse-lüstern werden) die Bühne. Grimm lässt grüßen. Schneewittchen und Rotkäppchen. Angst. Neurose. Paranoia. Das Ganze wird psychopathologisch. Grétry hat eben ein Märchen geschrieben.
Ein Herz für Arme und Verstoßene
Nach und nach und von Akt zu Akt verwandelt sich alles in eine seelenlose Großstadtszenerie. Unter einer versifften und mit Graffiti besprühten Autobahnbrücke mit rasenden Karossen darüber versucht Zemiras Vater Sandro mit Campingausrüstung und seinen verbleibenden Töchtern Fatima (großartige Arien: Seunghee Kho) und Lesbia (Tolles „Sfogarsi per poco“: Maria Polanska) sich verzweifelt und verarmt ein Lager einzurichten - bis plötzlich ein Auto von der Decke fällt, aus dem Zemira aussteigt, um ihren Vater zu trösten. Es ist eine Szene, wie man sie aus dem Bayreuther „Ring“ von Tankred Dorst oder dem „Parsifal“ Calixto Bieitos aus Stuttgart kennt. Lowerys Herz schlägt hier für die Armen, Verstoßenen, Traurigen. Solche Bilder berühren.
Und stehen freilich in krassem Gegensatz zu dem, womit der Engländer final aufwartet: der Fußballarena, die nicht nur mit fußballerischen und sängerischen Überraschungen aufwartet, sondern auch mit einer intensiven Musizierweise, allerlei Echoeffekten und Bühnenmusiken. All das gipfelt im (fast) abschließenden Ballo-e-Coro-Sextett, in dem gesungen und gekickt wird, was das Zeug hält. Forcks Akademie-Musizierende (und er selbst an der Geige) spielen sehr farbenreich, brillant und bisweilen tief beseelt und atmend, im Kontrast zur Tiefe schwingt der tänzerische A-Dur-Dreier auf dem Rasen des Schlosstheaters dann wie das lockere und ständig rochierende Tiki-Taka der Spanier. Was für ein Sound!
Ein tolles Sextett
Scicolones Zemira ist schlicht umwerfend in Bild und Ton. Ihre Stimme ist noch reifer, noch runder geworden. Kabongos Azor strahlt unfassbar frei, edel und kultiviert (von ihm, dem studierten Ingenieur, wird man noch hören). Thomas Beraus Sandro fügt sich stilistisch gut ein. Er hält seine große Stimme, so muss es sein, in schlichtem Glanz. Kho und Polanska sind Zerlina würdige und wohlklingende Schwestern. Auch Raphael Wittmer als Sandros Diener Ali füllt seine Charakter(tenor)rolle gut aus. Ein tolles Sextett.
Dass das volle Auditorium im Schlosstheater da am Ende laut feiert - es versteht sich von selbst. Aber Lowery erntet ein paar Buhs. Die erste Zusammenarbeit von Schwetzinger Festspielen und Oper des Nationaltheater Mannheim ist geglückt. Der Abend war - witzig. Was kann da noch passieren? O Nein! Der Gegner hat gerade ein Tor geschossen …
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