Schwetzingen. Zeichnet sich hier etwa ein neuer Trend ab? Zum zweiten Mal in vier Tagen erlebe ich, dass die Zugabe eine Aufgabe der Grenze zwischen Publikum und Künstler und also auch der eigenen Scham bedeutet.
Hat Pinchas Zukerman mit den Mannheimer Philharmonikern den Musensaal mit 1300 Menschen jüngst noch kollektiv zum Singen von Brahms gebracht und mit dem alten deutschen Romantiker allen „Guten Abend, gute Nacht“ gewünscht, so meinten Julius Drake, Udo Samel und Christoph Prégardien nun bei den Schwetzinger Festspielen, sie müssten die erlauchte Schlossgesellschaft Matthias Claudius singen lassen.
Passend zum Monduntergang um 21.22 Uhr singt also die Fanschaft des deutschen Kunstlieds im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses quasi zeitgleich und ziemlich textsicher „Der Mond ist aufgegangen“ (waren es eigentlich alle sieben Strophen?). Eine schöne, gemeinschaftliche Entwicklung. Zwar eine interaktive Minimalität nur. Aber mit maximaler Wohlfühlwirkung.
Die Freude ist groß - und im Publikum ein Raunen zu vernehmen
Zumal nach so einem hochgeistigen Abend für all jene, die vom deutschen Bildungsbürgertum übrig geblieben ist. Im Zentrum gewissermaßen der teuerste Edelstein deutscher Dichtung: Johann Wolfgang von Goethe. Seinen Gedichten, Texten und Briefen verleiht Udo Samel seine Stimme. Wenn er mit ihr anhebt und „Das Veilchen“, das von „Juchhe!“- und „O Weh!“-Ausrufen gespickte „Vanitas! Vanitatum vanitas!“ oder auch Auszüge aus „West-östlicher Divan“ rezitiert, ist immer wieder ein Raunen im Publikum zu vernehmen. Die Freude ist groß. Und die Leichtigkeit, mit der Samel rezitiert und bisweilen mit fast Heinz-Erhart-mäßigem Schalk im Nacken zeigen zu wollen scheint, dass Goethe durchaus voller Humor ist - sie sind absolut ansteckend.
Christoph Prégardien singt wie ein Gott
Wer freilich die Tiefe in Goethes Texten sucht, Intimität und so etwas wie innerste Seelenrührung, ist auf Christoph Prégardien und Julius Drake angewiesen. Prégardien singt an dem Abend wie ein Gott. Sein Tenor klingt so nuancenreich wie einst der von Peter Schreier. Er charakterisiert in Liedern wie Carl Loewes „Erlkönig“ facettenreich und mühelos die drei Erzählperspektiven von Goethes megabekannter Ballade, und auch, wenn man die Fassung Schuberts schmerzhaft vermisst, freut man sich über Loewes vor allem in der Klavierpartie wesentlich ausdifferenziertere Fassung, die immer bei den Erlkönigworten ein fast impressionistisches Säuseln entfacht, das nicht nur dem Sänger und Pianisten, sondern auch den Hörern mehr Atem lässt. Bitte mehr davon.
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Der Abend war schlicht genial
Den Schwetzinger Festspielen gelingt hier vor allem wegen der überragenden Prégardien und Drake ein fantastischer Abend. Wenn man nun noch Haare in der Suppe suchen möchte, könnte man sich vielleicht eine Spur mehr Pianobass her wünschen und weniger Diskant. Da sind wir aber schon bei sehr detaillierten Geschmacksfragen angelangt. Ein anderes Haar in der Suppe ist, dass im Konzert keine jungen Menschen sind. Da will man sich nicht vorstellen, wie es um das Kunstlied im Klassikzirkus in 20 Jahren bestellt ist. Da muss etwas passieren, eine Brücke gebaut werden zwischen Kunst-, Volks- und Poplied. Dem Abend selbst tut dies freilich keinen Abbruch. Er war schlicht genial.
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