Heidelberg. Brahms, der alte Melancholiker und Zweifler - damals war er allerdings noch ziemlich jung -, musste fast lächeln: als er die gedruckte Partitur der „Liebesliederwalzer“ sah. Denn ausnahmsweise war er selbst mit seinem Werk zufrieden. Auch der Publikumserfolg gab ihm bald recht. Bis heute freilich ist es eine echte Aufgabe, die Lieder mit einem Vokalquartett in adäquater Weise aufzuführen. Dafür muss ein veritables Dream Team aufgeboten werden - das beim Heidelberger Frühling freilich zur Verfügung steht: Nikola Hillebrand, Anna Lucia Richter, Julian Prégardien und Samuel Hasselhorn lassen die allermeisten Träume wahr werden.
Sie bieten in der Neuen Universitäts-Aula nicht nur geschliffenen Gesang, sondern auch so etwas wie eine Inszenierung dieses Brahms-Ensemble-Liederspiels, das virtuos mit Tonfällen und Konventionen umgeht. Konventionen, die schon damals auf einen gewissen Unernst treffen konnten. Wenn nicht mussten. Und in Heidelberg gibt es dazu eine Art Bühnenbild: Zur Linken steht ein Kaffeetisch mit Goldrand-Tassen, die auf das Design der neobiedermeierlichen Wirtschaftswunderjahre anspielen. Zur Rechten wird eine moderne Picknick- oder Party-Zone angedeutet. Die vier Interpretinnen und Interpreten wechseln zwischen den Bereichen hin und her.
Anna Lucia Richter trägt noch etwas dicker auf als die Kollegen
Natürlich lässt sich Brahms‘ Kaleidoskop zum Thema Liebe, Glück und Kummer, das auf Reimpaare wie „Blümelein“ und „Tränen rein“ oder auch „Vogelsang“ und „Freudenklang“ zurückgreift, heutzutage nur mit einer extragroßen Dosis Ironie bewältigen. Anna Lucia Richter trägt da manchmal noch ein bisschen dicker auf als die Kollegen, sie ist ja für ihre Bühnenexpressivität bekannt. Neben den „Liebesliederwalzern“ und den „Neuen Liebesliedern“ werden auch zehn Volkslieder von Brahms gesungen. Eines davon auf gut Kölsch: „Och Mod’r, ich well en Ding han!“ Was für Richter, die aus Köln stammt, vollends wie ein Heimspiel ist.
Aber auch Christoph Prégardien zeigt neben seinem nach wie vor strahlend-verführerischen tenoralen Timbre eine Menge Spiellaune. Während Samuel Hasselhorn oft lässig in der Picknick-Zone ausharrt. Stimmlich schwebt Nikola Hillebrands Sopran natürlich über allen Dingen, was wir nicht nur sagen, weil sie früher auch am Nationaltheater Mannheim engagiert war und in Heidelberg den Wettbewerb „Das Lied“ gewonnen hat. Einzig bei der Klavierbegleitung sind gewisse kleine Abstriche zu machen: Gerold Huber, der mit einiger Wahrscheinlichkeit profilschärfend gewirkt hätte, musste aus Krankheitsgründen absagen. Diego Mallén Mendoza, sein „Ersatz“ (und Schüler), fügt sich allerdings im vierhändigen Spiel mit Ammiel Bushakevitz ziemlich nahtlos ein.
Ziemlich am Schluss der „Neuen Liebeslieder“ heißt es: „Nun, ihr Musen, genug!“ Das gilt auch für den Heidelberger Frühling insgesamt. Zum krönenden Finale setzt das Festival auf altbewährte Kräfte: Geigerin Veronika Eberle - die für die schwangere Nicola Benedetti einspringt - war zum ersten Mal 2013 hier, und auch den Dirigenten Paavo Järvi durfte man bereits in der Vergangenheit begrüßen. Doch vor allem ist er mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen fast ein Leben lang verheiratet.
Vor 29 Jahren hat er beim Orchester debütiert, seit 20 Jahren ist er dessen Künstlerischer Leiter. Logisch, dass die Neue Universitäts-Aula randvoll, die Zahl der Sitzplätze für die Besucherinnen und Besucher auf den maximalen Wert von 750 hochgefahren ist. Und dass die Aufführung des Violinkonzerts des „Publikumsmagneten Brahms“ ansteht (wie er in Heidelberg genannt wird), steigert nochmals die Erwartungshaltung.
Doch Solistin Eberle wirkt ruhig und ungeheuer fokussiert. In der Orchester-Einleitung schließt sie die Augen, hört in die Musik hinein. Dann startet sie von Null auf Hundert, zeigt im ersten Satz bemerkenswert viel „Kante“, krallt sich etwa förmlich die markanten Doppelgriffpassagen. Und wenn die Kadenz erreicht ist, steigert sich nochmals der Dichtegrad der Darstellung. Extravaganzen gibt es dabei nicht, auch die gewohnten Zeitfenster werden präzise eingehalten. Dennoch hat man Eberle, an diesem Abend auch in lyrischen Passagen drängend intensiv, nicht oft so zupackend gehört. So nach dem musikalisch „Absoluten“ suchend.
Paavo Järvi schafft dafür den idealen Rahmen. Bereits die erwähnte Einleitung ruht in sich selbst, den Holzbläser-Beginn des zweiten Satzes darf man gar berührend nennen. Dass der Dirigent auch zuzupacken weiß, ist hinlänglich bekannt, und nach der Pause demonstriert er das in einer frühen Schubert-Sinfonie noch deutlicher. Auf deren Qualitäten ist zwar in den letzten Jahren regelmäßig hingewiesen worden. Allerdings: Der Abstand zu den beiden späten, „großen“ Sinfonien bleibt beträchtlich, sogar Järvi kann das nicht vergessen machen.
Doch er gibt sich in der Zweiten (komponiert von einem noch nicht 18-Jährigen!) die größte Mühe, tritt gewissermaßen eine Flucht nach vorne an. Durch schnittig zugespitzte Tempi. Beschleunigt wirken insbesondere die Ecksätze, und im Finale scheint der Dirigent dem jungen Schubert sogar revolutionäre Anwandlungen nachsagen zu wollen. Überzeugend wird das unwirsch-scharfe Scherzo ausgereizt, das fast von Schumann stammen könnte. Es schrumpft nur im Mittelteil zum Menuett.
Und auf das Menuett folgt später eine Walzer-Zugabe: Sibelius‘ 1903 geschriebene „Valse triste“. Das Stück ist oft mit einem Kitschverdacht belegt worden, und reichlich naheliegend ist der ja. Doch Paavo Järvi zeigt, dass auch ein Totentanz in diesem Walzer schlummert. Und vibriert.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Heidelberg: Warum der Frühling mal wieder improvisieren muss