Akademiekonzert

Nationaltheaterorchester und Matiakh auf Tuchfühlung mit Russland

Mit Werken von Glinka, Schostakowitsch, Rachmaninow und Mussorgski gelingt Dirigentin Ariane Matiakh mit Tanja Tetzlaff und dem Nationaltheaterorchester im Akademiekonzert ein großer Erfolg

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Loteten die Tiefen in Schostakowitschs Cello-Konzert Es-Dur aus: Violoncellistin Tanja Tetzlaff und Dirigentin Ariane Matiakh im Rosengarten. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. Was für ein Unterschied im Gebaren zweier Menschen: Paukenschläge grollen, Bläser schleudern ein aggressives Motto in die Luft, und tiefe Streicher pumpen schweres Material aus den Es-Tiefen empor. Doch plötzlich, mit ganz trockenen Detonationen, ist alles zu Ende. Mit acht schnellen Schlägen. Schostakowitschs Cellokonzert endet wie eine monumentale Horrorfilmszene. Überwältigungsmusik.

Tanja Tetzlaff, die Cellistin, steht auf. Ariane Matiakh, die Dirigentin, dreht sich um. Beide wenden sich den begeisterten Menschen im fast ausverkauften Rosengarten zu. Die eine, Matiakh, ist (auch jetzt) ein lächelndes und strahlendes Wesen, an der anderen, Tetzlaff, scheint (auch jetzt) etwas zu nagen. Ist es das Nachwirken aus Schostakowitschs psychologischem „Lärm der Zeit“?

Raffinesse und Widersprüchlichkeit

Sicher ist, dass die Herangehensweisen der beiden Damen bei diesem letzten Akademiekonzert der Saison unterschiedlich ist. Während Matiakh im Grunde bei allen (russischen) Werken des Abends dirigentisch nach klanglicher Raffinesse sucht, nach Eleganz und Farbe (wir vermeiden das Klischee des Französischen), so scheint Tetzlaff stets auf einer sehr ernsten Suche nach den Unebenheiten, Widersprüchen und, ja, Hässlichkeiten in den Strukturen zu sein.

Die Akademiekonzerte

  • Akademiekonzerte: Das in der Musikalischen Akademie organisierte Nationaltheaterorchester Mannheim ist Veranstalter einer der ältesten Konzertreihen in Deutschland, die bis 1778 zurückreicht. Die demokratische Struktur, ihre damit verbundene programmatische und finanzielle Autonomie sind eigenen Angaben zufolge einzigartig und wichtig „für die künstlerische Identität und das Selbstbewusstsein der Musiker“, die sich in acht Doppelkonzerten im Jahr im Rosengarten präsentieren.
  • Zahlen: Derzeit zählt der Vorsitzende der Akademie Fritjof von Gagern 2500 Abonnentinnen und Abonnenten. Für die kommende Saison seien bereits 150 Neuabos verkauft, „was richtig gut ist im Vergleich zu den Vorjahren“, so von Gagern. Die Auslastung mit rund 80 Prozent (rund 25 000 Besucher) sei aber sehr gut.
  • Nächstes Konzert: 16./17.10. Ein italienischer Abend mit dem neuen GMD Roberto Rizzi Brignoli.
  • Info/Karten: 0621/260 44.

 

Gleich den fast tänzerischen Beginn des Allegretto nimmt sie mit schwerem Bogen und stemmt aus dem Guadagnini-Cello expressiv titanische Salven hervor. Das klingt nicht immer schön. Aber das soll es auch nicht, tanzt bei Schostakowitsch, wenn überhaupt wer, dann eher der monströse Schrecken in Springerstiefeln als die Ballerina in Tüll auf Spitze. Aus dieser konträren Konstellation heraus gelingt dem Nationaltheaterorchester mit Tetzlaff und Matiakh aber eine aufreibende Version des Werks, die vielleicht gerade durch die Antinomie von Leichtigkeit und Schwere ihren ganzen Psychoeffekt entwickelt.

Mitunter schwingen hier die Repressionen des Stalin-Regimes und die Depressionen der Stimmungslagen mit - selbst dort noch, wo Tetzlaff (im erdenfernen Moderato) mit wunderschönen Kantilenen in Zwiegesprächen mit Solisten des Orchesters von intimster Privatheit, ja Einsamkeit und erschütternder Seelenzerbrechlichkeit erzählt. Musik, die an unser Innerstes rührt und dort einen Ort sucht. Selbst in der zugegebenen C-Dur-Sarabande aus Bachs Solosuite BWV 1009 („etwas Versöhnliches“, wie Tetzlaff ankündigt) überwiegt nicht der Schönklang, sondern Ausdruck. Eine besondere Musikerin.

Keine Schmachtfetzen

Zwei echte Klassiker des russischen Repertoires stehen - neben dem eingangs gespielten „Kamarinskaya“ von Michail Glinka - danach auf dem Programmzettel: Rachmaninows Verklanglichung von Arnold Böcklins symbolistischer „Toteninsel“ und „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ des frühmodernen Mussorgski.

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Die mitunter fast an französischen Impressionismus erinnernde magische Klangmalerei der „Toteninsel“ liegt Matiakh mehr als die Ironie Schostakowitschs. Der thematischen Armut der Partitur stellt Rachmaninow fantastische Klangfarben gegenüber, die das Orchester unter Matiakh geschickt mischt und dabei mit tollen solistischen Leistungen in allen Instrumentengruppen auffällt.

Überhaupt interessiert Matiakh sich mehr für horizontale Entwicklungen, sucht nach amorphen Stimmungsänderungen, obwohl sie hier ausnahmsweise auffällig oft doch den Fünf-Achteltakt (zwei plus drei) durchschlägt, damit das große Orchester mit der teils 25-stimmig notierten Partitur auch zusammenhält.

Die Coronaflaute ist vergessen

Es sind ja nicht die großen russischen Schmachtfetzen voller Pathos wie Tschaikowksys „Pathétique“, die hier gespielt werden. Dennoch wirkt Rachmaninows Klassiker doch mitunter etwas streng und kühl, könnte man sich vorstellen, dass mehr Atmen, Drängen und Verweilen an besonderen Orten, also mehr Tempo rubato, dem Werk noch mehr Erdung, Düsternis und Expressivität verleihen würde.

Was auf den Abschluss mitnichten zutrifft: Mussorgskis „Nacht auf dem kahlen Berg“ liegt Matiakh sehr. Die engmaschige Struktur, das teils fast „Hummelflug“-artige Flirren der Figuren, die Klangexplosionen, instrumentierten Effekte inklusive Tam-Tam-Rausch (gespenstisch etwa auch die Sordinostreicher nach den D-Schlägen der Röhrenglocke) werden von den NTM-Musikerinnen und -Musikern unter Matiakh beispielhaft realisiert.

Klug steht Mussorgski hier am Schluss und ist Garant für den verdienten Jubel für dieses Konzert und seine Dirigentin. Die Coronaflaute ist vergessen. Die Akademie brummt.

Wiederholung am Dienstag, 4. Juli, um 20 Uhr im Mannheimer Rosengarten (Info: 0621/260 44).

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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