Mannheim

Akademiekonzert im Rosengarten: Die Frau am Pult, der Mann von einem anderen Stern

Dirigentin Anja Bihlmaier führt das Nationaltheaterorchester im 6. Akademiekonzert im Mannheimer Rosengarten zu großer Brillanz, Pianist Rafal Blechacz Chopin zu graziler Noblesse

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Höchste Transparenz, höchste Noblesse: Rafal Blechacz und Anja Bihlmeier bei der Arbeit mit dem NTO und Chopins Klavierkonzert e-Moll op. 11. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. Irgendetwas an diesem Wesen ist, ja, irgendwie aus der Zeit gefallen. Oder wie von einem anderen Stern? Wenn Rafal Blechacz, dieser zarte, zerbrechliche Mann, die Bühne des Mannheimer Mozartsaals betritt, etwa zur ersten Zugabe, dann scheint er zehn Zentimeter über dem Fußboden zum Steinway zu schweben. Er verbeugt sich mit einem schüchternen Lächeln, setzt sich unscheinbar und fast schon schülerhaft auf die Klavierbank, richtet noch kurz seinen Frack zurecht und legt los. An die 2000 Menschen lauschen. Stille. Und plötzlich beginnt ein Ereignis.

Die Sache ist alles andere als normal. Es erklingt Chopins cis-Moll-Walzer, bekannt auch durch Millionen von Dilettanten, die sich am ohrwurmartigen più-mosso-Teil abmühen und so Millionen von Nachbarn auf die Nerven gehen. Bei Blechacz fliegt all das elegant vorbei wie die Erinnerung an ein erotisches Abenteuer in einer lauen Liebesnacht bei in Lüftchen wehenden Gazevorhängen. Blechacz zieht das Tempo an dieser Stelle bis zur Walzerunkenntlichkeit an und gestaltet Chopins Opus 64 Nr. 2, als sei es der flüchtige Schatten von etwas. Ein schönes Denkmal.

Das ist genial in seiner Nebensächlichkeit. Der Mann scheint Philosoph zu sein und die wichtigen Dinge von unwichtigen zu trennen. Effekthascherei und Marktschreierisches sind ihm fern. Auch im Klavierkonzert e-Moll (Opus 11) ist das so. Blechaczs Spiel hat eine radikale Klanghierarchie. Die Melodie, das Thema, das Singen - sie stehen über allem. Deswegen glänzt und funkelt sein Ton in diesem Werk des 19-jährigen Genies aus dem Herzogtum Warschau so hell.

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Und genau deswegen spielt das Nationaltheaterorchester unter Anja Bihlmaier hier am Beginn des Chopin-Konzerts nicht ganz auf Augenhöhe. Die vertikale Hierarchie des Klangs stimmt nicht zu hundert Prozent. Die fetten und schwer (pesante) notierten unteren und mittleren Stimmen verhindern, dass das Orchester zu Beginn des Allegro maestoso richtig brillant rüberkommt und das erste Thema profiliert vorstellt - ein Detail zwar nur, aber entscheidend. Eine Ordnung mit mehr Violinen, weniger Bratschen, Celli und Bässen hätten hier ein Mehr an Gesanglichkeit bedeutet.

Einsames Fagott-Rezitativ

Blechaczs Chopin indes ist unanfechtbar in seiner Makellosigkeit, seinem Klang und seiner wie nebenbei passierenden Virtuosität, die sich immer dem musikalischen Sinn unterordnet. Das Werk erklingt so zwar nicht in jedem Moment mit Bihlmaiers Orchester perfekt synchronisiert (im Vivacebeginn korrigiert Blechacz auch Bihlmaiers Tempo nach oben), doch immer homogen, klanglich ausgelotet und mit jener ungeheuer grazilen Noblesse, die Chopins Klavierspiel selbst gehabt haben muss.

Der Abend wird zum vollen Erfolg. Neben Chopin (die zweite Zugabe ist das aphoristische A-Dur-Prélude aus op. 28) erklingen Werke der französischen Weltstars des Impressionismus: Ravel und Debussy.

Bihlmaier, erst die dritte Frau am Pult des Orchesters mit der 245-jährigen Geschichte, hat hier den Laden fest im Griff. Sie reagiert sehr engmaschig auf die Ereignisse in den Partituren, gibt sehr viele Einsätze in allen Stimmgruppen und stellt den Charakter der Musik, mitunter auch in einer ganzkörperlichen und kleinteiligen Choreographie, tänzerisch gelungen dar. Der Kontakt zu den Musikerinnen und Musikern ist immer intensiv, nur einmal greift sie überhaupt nicht ins Geschehen ein: im einsam klingenden Fagott-Rezitativ von Ravels Meisterwerk „Alborada del gracioso“, das Eberhard Steinbrecher mit viel Seele umsetzt.

Überhaupt die Holzbläser: Schon in Ravels barocker Verneigung „Le Tombeau de Couperin“ zu Beginn glitzern, wuseln und balsamieren sie munter und virtuos. Doch in „La mer“ wird das alles zum Klangwunder. Vom Beginn der gestrichenen und gezupften Bässe, dem ersten Einsatz der Oboe bis hin zu den raffinierten Klangfarbenexplosionen im „Spiel der Wellen“, wenn Debussy wirklich durch den Einsatz von Becken, Glockenspiel und Harfe zu Holz, Blech und Streichern zu zaubern beginnt und mit Tönen malt. Fantastisch. Und brillant umgesetzt vom NTO unter Bihlmaier, die gemeinsam auch aus dem geheimnis- bis unheilvollen Beginn des „Dialogs des Windes und des Meeres“ ein fast filmisches Spektakel machen.

Mehr Schleier täte auch gut

Bihlmaiers akribisches Dirigat ist perfekt und führt das NTO zu großer Transparenz und Plastizität. Bisweilen meint man, die Partitur vor dem inneren Auge mitlaufen zu sehen. Die Dirigentin bringt im besten Sinne alles vertikal so zusammen, dass es fast analytisch hörbar wird. Ein Hören wie mit Stethoskop. Es bleibt freilich Geschmacksache, aber wenn man will, kann man in dieser Deutung auch etwas Unschärfe vermissen; man stelle sich nur vor, wie die Gemälde von Claude Monet oder Auguste Renoir wären, wenn alles darin scharf wäre - es wäre kein Impressionismus mehr, der immer mit unserer Akzeptanz des Vagen, Nichtgezeigten spielt, das unser Geist komplettiert.

Also: Man kann (aber man muss nicht) einen Funken Schleier, Nebel, Parfüm oder klangliche Zwischenwelt in diesem Debussy vermissen, der in seiner Klangrede doch auch schleierhaft bleibt. Dazu täte mehr horizontales Denken gut. Klar: Das sind Einwände auf höchstem Niveau bei einem Konzert, das (auch vom Publikum) schon höchste Punktzahlen bekommt.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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