Frau Haug, ist „Urban Nature“ nicht ein Widerspruch in sich?
Helgard Haug: Es geht um die Natur der Stadt: den Mechanismus oder ihre Gesetzmäßigkeit, den Körper, Puls, Atem einer Stadt. Für den Titel fanden wir es gut, erstmal scheinbar einen Widerspruch herzustellen, dann aber zu fragen: Welche Gesetzmäßigkeiten gibt es in einer Stadt, und wie bedingen sie sich? Die eine Aktion, die eine Haltung, die eine Identität bedingt auch die Rolle und das Leben der Anderen.
Wie erleben wir in „Urban Nature“ die zivilisatorischen Großeinheit Stadt?
Haug: Wir haben in der Kunsthalle eine Stadt in der Stadt aufgebaut. Die Besucherinnen und Besucher gehen sozusagen in den Kulissenbau einer Stadt, in der sie sieben verschiedene Geschichten erleben. Ich begebe mich beispielsweise in die Perspektive eines Akademikers, eines Gefängnisaufsehers, einer Obdachlosen, einer Bankerin oder eines Kindes. Wir haben sieben Profile ausgesucht, die in möglichst großem Kontrast zueinander operieren, aber in Abhängigkeit zueinander stehen.
In ökonomischer Hinsicht?
Haug: Genau, auf diesen Aspekt stellen wir scharf. Es sind sieben verschiedene Menschen, die sich für ein Leben entschieden haben oder für die entschieden wurde, wie sie leben. Diese Geschichten erlebt man aber nicht als eine lineare Folge, sondern in immer genau den selben acht Minuten. So offenbart sich der Mechanismus.
Wie funktioniert er?
Haug: Es ist, wie wenn man im eigenen Leben die Zeit zurückdrehen könnte und das eben erlebte noch mal aus der Perspektive eines anderen erleben könnte. Diesen Mechanismus betritt man in unserer Installation - und hat dabei die Wahl, ob man eine etwas aktivere Rolle übernehmen möchte und quasi in die Haut einer der Personen schlüpft. Neben der subjektiven Rolle kann man das Ganze auch als kleine Gruppe von außen betrachten und sich zum Beispiel der Investmentberaterin an ihrem Tisch gegenüber hinsetzen, in der Gefängniswerkstatt Platz nehmen oder sich in das Bett in einer Notunterkunft legen.
Und die Perspektive hält man bei?
Haug: Man ist entweder als Gruppe oder Protagonist unterwegs, ja. Aber auch als Gruppe wechselt man von Szenerie zu Szenerie. Das alles ist wie ein begehbarer Film, der immer wieder von vorne beginnt und nach und nach kann ich mich darin orientieren auch wenn sich mit jedem Mal eine neue Welt auftut.
Wie lautet das ethische Fazit? Ganz nach Heiner Müller - „Luxus braucht Sklaverei“?
Haug: Vielleicht sind wir da näher an Brecht als an Müller: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Aber wir erheben da keinen moralischen Zeigefinger. Es ist eher eine spielerische Einladung die Logik eines anderen Menschen zu erleben, die Blase und den Plot zu wechseln. Das erlaubt genauer hinzuschauen, eben nicht nur auf die eigene Geschichte, sondern auch auf die der anderen Spieler. Vorallem aber ist es ein Experiment mit einer sehr eigenwilligen Erzählweise.
Wie sah die Recherche aus?
Haug: Was ist eigentlich eine Stadt, was könnte da sein und wie wandelt sie sich? 60 Prozent der Menschheit lebt in Städten, und die Zahl wächst, auch wenn es sich durch Covid gerade wieder ändert, da das digitale Arbeiten eine Präsenz in der einer Stadt nicht unbedingt nötig macht. Das verändert sich aber nur für hoch entwickelte Länder, weltweit suchen Menschen weiterhin ihr Glück in der Stadt. Wir haben das Stück ja zunächst in Barcelona herausgebracht, einer Stadt, die sich extrem im Wandel befindet - und das Konzept Stadt auch extrem hinterfragt, sei es in Sachen Mobilität, Lebenswert oder bauliche Ausrichtung rein auf den Autoverkehr, was ja auch in Mannheim hinterfragt wird. Wie schafft man es, das Miteinander nach dem Menschen auszurichten. Wie schafft man überhaupt andere Räume, die teilbar sind, wo es eben nicht nur um Funktion oder Konsum geht.
Die Stadt als Utopieraum?
Haug: Ja, auf der einen Seite lässt sich über Utopien nachdenken. Der Wirtschafts- und Umwelthistoriker Enric Tello, der einer unserer Protagonisten ist, hat als Kind seine Sommerferien immer auf dem Land verbracht und schwärmte lange vom Leben mit den Großeltern dort, der Natur und Idylle. Als Kind wollte er nicht in einer Stadt leben, sie war für ihn negativ besetzt: zu viele Menschen, zu dicht aufeinander, zu viel Verkehr, Lärm, Dreck und Unglück, Probleme… Ein Ort, wo das Leben sehr ungleich sein kann, was ich übrigens auch hier in Mannheim sehr deutlich wahrnehme. Später wurde Enric Tello klar, dass ein solidarisches Prinzip wegen der räumlichen Nähe gerade in der Stadt möglich sein könnte, und setzt sich seither für diesen Gemeinschaftsgedanken ein. Was kann man noch miteinander teilen außer Wänden, der Parkbank oder der Bushaltestelle? Heute schwärmt er von den Möglichkeiten eines gemeinsamen Lebens in der Stadt. Auf der anderen Seite geht es aber eben auch um die knallharte Realität oder die Dystopie einer Stadt. Fressen oder gefressen werden. Sich abgrenzen andere Schicksale ausblenden…
„Urban Nature“
- Rimini Protokoll ist ein Künstlerkollektiv bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, das mittlerweile weltweit postdramatisches Dokumentartheater im Performance-, Hörspiel- oder Video-Format realisiert. Sie fanden 2000 beim Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen zusammen und arbeiten mit Theaterlaien, die „Experten des Alltags“ sind.
- In Mannheim war für Zeitraumexit 2002 „Der Ameisenstaat“ in der Feuerwache zu sehen. Im Rahmen der Schillertage 2005 entstand die Produktion „Wallenstein“ (mit Politiker Sven-Joachim Otto), mit der das NTM 2006 zum Berliner Theatertreffen eingeladen war.
- Ferner waren am NTM bereits etwa die Rimini-Projekte „Qualitätskontrolle“ (2015), „call cutta in a box“ (2008) oder „Adolf Hitler: Mein Kampf, Volume 1&2“ (2015) zu sehen.
- Der Kunstverein Heidelberg widmete unter Johan Holten dem Oeuvre Rimini Protokolls 2010 eine eigene Ausstellung.
- Die Weltpremiere von „Urban Nature“ war im Juli 2021 im Centre de Cultur Contemporània de Barcelona (CCCB). Die Koproduktion mit Kunsthalle und Nationaltheater Mannheim ist bis 16. Oktober als interaktive multimediale Installation im Erdgeschoss der Kunsthalle zu sehen. Karten (mit exakt buchbarem Zeitfenster zwischen 11 und 17 Uhr) gibt es zu 12 Euro ausschließlich über kunsthalle@mannheim.de, kuma.art oder 0621/29 36 423.
Wie kommen Sie zu Ihren Leuten? Die Auswahl ist wieder einmal sehr speziell...
Haug: Recherche zu einem Thema und Casting laufen eigentlich immer zeitgleich ab. Wir versuchen mit möglichst vielen Menschen in Kontakt zu kommen, etwas zu erfahren, an Orte zu kommen, die wir nicht kennen oder wo wir uns nicht auskennen. Dann geht es darum, ein Ensemble aufzubauen, das aus starken Protagonisten besteht. Denn es geht um die Widersprüche und Kontraste der Figuren zueinander und darum, unterschiedliche thematische Felder zu besetzen ...
... ja, ja die Felder, ich will aber das Rimini-Geheimnis lüften: Wie kommen Sie vom Feld zur konkreten Person?
Haug: Auf diesen Feldern befinden sich ja Personen… dort fangen wir an und fragen uns von dort aus weiter durch. „Fällt euch nicht jemand ein, der oder die...“ Manchmal führt uns auch ein Zeitungsartikel zu einer Person oder die Menschen vor Ort helfen mit privaten Kontakten. Wenn wir von einer Person überzeug sind und mit ihr zusammenarbeiten wollen, dann fragen wir sie an. Das ist ja auch oft ein Problem der verfügbaren Zeit. Die Leute stehen ja voll in anderen Berufen und Verpflichtungen.
Ihre Figuren halten für das Publikum oft Überraschungen bereit, wie etwa für Mannheimer, die 2005 ihren OB-Kandidaten Sven-Joachim Otto als „Wallenstein“ auf der Bühne sahen...
Haug: Obwohl das vielleicht ein Sonderfall war. Sven-Joachim Otto, wollte gerne auf die Bühne. Er suchte nach seinem politischen Absturz den öffentlichen Auftritt, der ihm ja verwehrt war, um seine Sicht auf die Ereignisse erzählen zu können. Das war seine Motivation.
Da sind wir wieder beim Thema Stadt, wo es so viele unsichtbare Menschen gibt...
Haug: Ja richtig gerade hier geht es darum, Menschen, die sonst mitten unter uns übersehen werden, sichtbar zu machen, die junge Obdachlose, den Gefängniswärter aber auch eine Person, die hinter den Kulissen an ganz neuen Technologien für den neuen Arbeitsmarkt schraubt und mit der sogenannten Gig-Economy experimentiert - sichtbar sind zwar überall die Fahrradkuriere, die das Essen an die Haustür liefern, aber was genau steckt dahinter?
Sie stehen dann im Kontrast zur Großbankerin oder dem Wirtschaftshistoriker?
Haug: Die Frage, die sich auftut ist: Bin ich in der Lage, empathisch meine Mitmenschen wahrzunehmen, selbst wenn diese in einer Logik operieren, die mir total fremd ist. Eine Privatbankerin, die Geldanlagen ab zwei Millionen Euro anbietet, ist mir wahrscheinlich zunächst erstmal fremd. Wie wäre es für acht Minuten mal in ihrer Haut zu stecken und ihre Denkweise kennenzulernen?
Für mich ist die Struktur und die Räumen, in denen man sich bewegt aber ebenso wichtig, wie die Inhalte. Es ist ein Experiment mit einer neuen Form: einem begehbaren Film, der mich in dem loop von 8 Minuten gefangen hält.
Mit „Situation Rooms“ (wir berichteten) zeigten sie 2013 schon mal eine Produktion im Video-Walk-Format. Was ist nun anders?
Haug: Im Prinzip steht „Urban Nature“ in direkter Folge. Aber es gibt diesmal eben nicht nur die subjektiven Rollen, in die der Zuschauer qua Tablet springt, sondern es gibt das Parallel-Publikum, das die Geschichte aus einer Außenperspektive erzählt bekommt. Wir haben ja in der Installation, in der die Besucher sich befinden die Geschichten erst mal gedreht. Auch da: sowohl aus der Außenperspektive - durch viele Kameras, die in den Räumen aufgebaut waren als auch in der Subjektive mit den tablets, mit denen die Protagonisten drehten, während sie sich in den Räumen bewegten und die Geschichte erzählten…
Klingt kompliziert ...
Haug: Ist es auch, aber es funktioniert. Man erlebt diese Überschreibung von dem, was da gerade stattfand, zudem, das jetzt stattfindet, über Projektionen der ausgewechselten Rollen der Besucher - und erhält so einen anderen Blickwinkel auf das Gesehene, versteht manches vielleicht erst im Nachhinein oder ordnet es anders ein. Manchmal wird die Geschichte dadurch auch neu erzählt.
Ihre Protagonisten gelten als „Experten des Alltags“...
Haug: Wir arbeiten ja innerhalb des dokumentarischen Theaters mit Menschen, die in den allermeisten Fällen keine Schauspielausbildung haben und haben unsere Protagonisten anfangs sehr nachdrücklich Experten und Expertinnen genannt, weil wir nicht wollten, dass das was wir machen als „Laientheater“ abgetan wird. Mit dem Begriff des Experten konnten wir uns dagegen abgrenzen. In unserem Verständnis sind es zuvorderst keine Protagonisten, denen es an etwas mangelt, also die Schauspielerkunst, sondern Menschen, die etwas Zusätzliches mitbringen: Kenntnisse, Geschichten, Erlebnisse in dem Genre, um das es uns jeweils geht. Insofern trifft der Begriff „Experten“ nach wie vor zu. Das sogenannten ‚Experten-Theater’ ist aber nur ein Teil unseres Arbeitens, weil wir die Realität, um die es uns geht, eben auch in anderen Formaten in Ausstellungen, Stadtraumprojekten und Hörspielen einfangen, spiegeln und mit ihr spielen.
Rimini Protokoll will Wirklichkeit abbilden. Die Texte, die aus ihren Recherchen und Gesprächen entstehen, werden aber dramaturgisch und auktorial stark bearbeitet und diesmal auch wieder in ein multimediales Illusionstheater gesetzt. Ist das nicht, Pardon, eher „faked reality“?
Haug: Nein, „fake“ auf keinen Fall! Wir kondensieren allenfalls den Teil eines Lebens - hier auf acht Minuten. Uns muss es gelingen, das Porträt einer Person und einen Erlebnisraum zu schaffen, der sie in acht Minuten wiedergibt. Wir müssen ausklammern und viele Entscheidungen treffen, aber es ist nicht gefaked. Das würde ja heißen, wir behaupten, irgendwas, was nicht der Realität entspricht. Wenn es fake wäre, könnten wir uns ja einfach nur Leute ausdenken und mit Schauspielern besetzen, das wäre viel einfacher.
Der Begriff „konzentrierte Wirklichkeit“ wäre Ihnen also lieber?
Haug: Wesentlich lieber. In diesem Konzentrat haben die Protagonisten ein Mitspracherecht, sie autorisieren den entstandenen Text. Es ist aus der Subjektive erzählt und nicht aus meiner Sicht, sondern mit der Logik und im Wertesystem eben dieser Person, die dort agiert.
Innerhalb des Postdramatischen Theaters gelten sie vielen als Erfinder oder zumindest Trendsetter des Dokumentarischen Theaters...
Haug: Vitalisiert haben wir es ganz bestimmt. Wie eben im Film Fiktion und dokumentarisches als Genres nebeneinanderstehen, haben wir versucht, dies für das Theater neu zu etablieren. Wir gehen aber spielerischer, sinnlicher als frühere Vertreter des Dokumentartheater um. Wir setzen mehr auf Menschen als auf Akten oder Dokumente.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentare „Layla“ ist einfach doof, sollte aber nicht verboten werden