Nationaltheater

Mannheimer Nationaltheater: Woolfs "Orlando" als witzige Jonglage zwischen Identitäten

Das queere Thema liegt momentan in der Luft: Virginia Woolfs biografischer Roman „Orlando“ wird unterhaltsam und mit viel Komik im Studio Werkhaus des NTM auf die Bühne gebracht

Von 
Susanne Kaulich
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David Smith als Virginia Woolf mit Oberlippenbart und Antoinette Ullrich als Orlando. © Maximilian Borchardt

Mannheim. Papiere. Schnörkel. Siegel. Wieder und wieder. Das Botschafterleben in Konstantinopel ist ermüdend. Einen Aufstand wie in der Romanvorlage braucht es im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim (NTM) gar nicht, damit „Orlando“, Virginia Woolfs schillernder Protagonist, in Tiefschlaf verfällt. Um nach sieben Tagen als Frau zu erwachen und fortan Gesellschaft und Zeitläufte aus weiblicher Perspektive zu erleben.

Zur Erklärung für das scheinbar Unmögliche haben sich Regisseurin Milo Cortanovacki und Ausstatterin Keiko Nakama - beide Assistentinnen im Schauspiel am NTM - Spektakuläres ausgedacht. Der gläserne Kubus inmitten der Bühne mutiert zum Aquarium. Seifen-, pardon, Wasserblasen blubbern und ein aufgeblasener Riesen-Clownfisch erklärt die magische Wahrheit: Seine Spezies wie auch weitere 500 Fischarten wechseln mindestens einmal im Leben das Geschlecht. Der Ozean ist also voller Hermaphrodite!

Weitere Vorstellung

 

  • Eine weitere Vorstellung von „Orlando“ - frei nach dem Roman von Virginia Woolf - gibt es im Studio Werkhaus am Samstag, 20. Juli, um 20 Uhr sowie als Wiederaufnahme in der kommenden Spielzeit.
  • Weitere Informationen: nationaltheater-mannheim.de, Karten: 0621 1680 150

Und wem dies noch nicht reicht, der bekommt das Fazit eines Sexualwissenschaftlers obendrein mitgeliefert: Begriffe wie übernatürlich, unnatürlich und widernatürlich seien Zeichen mangelnder Naturerkenntnis.

Doch anders als bei Clownfischen verändert der Geschlechterwechsel bei Orlando alles. Die ewig junge, nunmehr weibliche Person muss sich arrangieren mit der englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, mit der viktorianischen Moral des 19. Jahrhunderts und landet schließlich in der Gegenwart der 1920er Jahre. So hat es sich Virginia Woolf 1928 ausgedacht, um ihrer großen Liebe Vita Sackville-West ein gebührendes Denkmal zu setzen.

Im Nationaltheater werden nun Episoden des schillernden Romans über die geschlechterfluide Figur Orlando - ein literarisches Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts weit über den platten Feminismus hinaus - in Szene gesetzt. Das queere Thema liegt momentan in der Luft. Haben sich doch in dieser Spielzeit auch schon das Schauspielhaus Hamburg (Jossi Wieler) und das Schauspiel Frankfurt (Karin Spira und Anselm Weber) dem Kultroman gewidmet.

Witzige Requisiten, aussagekräftige Accessoires

Das Regieteam um Cortanovacki erweitert nun die Orlando-Handlung mit der Entstehungsgeschichte des Romans. „Das Einzige, was ich tun kann, ist, sie für mich zu erfinden, “ gesteht die von Eifersucht geplagte Virginia Woolf. Und kreiert die zwischen den Geschlechtern changierende Orlando-Figur in Anlehnung an die untreue Vita.

Auf der Studiobühne verkörpert die quirlige Antoinette Ullrich Titelfigur und Vorbild. David Smith mimt gemäß der Elisabethanischen Theatertradition, Frauenrollen mit Männern zu besetzen, Virginia Woolf mit hippen Oberlippenbart. Schlüpft aber auch in alle weiteren Frauen und Männer der Roman-Bebilderung. Die Jonglage zwischen Identitäten ist Programm.

Mit witzigen Requisiten und aussagekräftigen Kostümaccessoires, die an Fahnenstangen zum Gebrauch flugs heruntergezogen werden, hangelt man sich abwechselnd erzählend, kommentierend und spielend von Szene zu Szene. Das ist unterhaltsam und zuweilen echt komisch. Zum Beispiel wenn die Schauspieler zu friderizianischen Barockflötenklängen umständlich die Rollerblades schnüren, um als russische Prinzessin Sascha und als auf rollendem Untersatz gefährlich wackligem Orlando im „Großen Frost“ von 1708 über die Bühne, äh Themse, zu gleiten.

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Es wird reichlich auf die Comedy-Tube gedrückt, die Klamotte ist nicht weit, es wird getrippelt, posiert und outriert, was das Zeug hält. Vielleicht ist das dramaturgisch auch nötig, um der etwas bieder am Romantext entlang erzählten Handlung Pepp und Tempo zu verleihen. Und das gelingt vorzüglich. Eben auch gerade weil sich die beiden Darsteller extrem ins Zeug legen, mit überdrehter Körpersprache und Slapstick-Mimik den zuweilen hölzernen Text zum Leben erwecken.

Ein bisschen mehr Tragik hätte aber nicht geschadet

Selbst wenn Orlando die Scheinheiligkeit der viktorianischen Gesellschaft, in der das Ausleben weiblicher Bedürfnisse tabuisiert wird, entlarvt, und sich dennoch dem strengen Reglement unterwirft, bleibt der Ton leicht und locker. Befreiung darf allenfalls im Schreiben erfolgen. So jedenfalls versuchten auch die Schriftstellerinnen Woolf und Sackville-West ihre für die Zeit unorthodoxen Wünsche auszuleben. Bekanntlich ist Virginia Woolf selbstmordend an diesem Lebensentwurf gescheitert. Mit versteckten Anspielungen war ihr Leben offenbar nicht zu retten. Von dieser Tragik hätte man gern mehr auf der Bühne gesehen. So darf nur Vita im angeklebt wirkenden Epilog von zeitweisen Befreiungsversuchen erzählen. Im übervollen Studio Werkhaus war man dennoch begeistert.

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