Tati ist da. Seit Donnerstag. Da kam sie nachmittags am Mannheimer Hauptbahnhof an. Nach 144 Stunden „On the Road“. Eine Odyssee. Die Stationen: Kiew, die Slowakei, Krakau, Berlin und Leipzig. Verstopfte Straßen, Feldwege, Grenzen, schreiende Kinder in überfüllten Fahrzeugen. Verzweiflung. Jetzt also Mannheim. Der Mannheimer Künstler Mehrdad Zaeri hat Tati zu sich eingeladen.
Die beiden kannten sich lediglich über Instagram. Tati bewunderte seine Bilder. Sie schrieben sich seit längerem zwischen Kiew und Mannheim hin und her. Zaeri erzählt die Geschichte von Anfang an. „Als in der Nacht zum 3. März die erste Explosion in Kiew zu hören war, schrieb mir Tati um 4.50 Uhr eine Nachricht: ’Ich habe Explosionen gehört, ich bin aufgewacht’“, sagt Zaeri, „so begann dieser Krieg für sie und irgendwie auch für uns“. Diese paar Worte seien so erschütternd gewesen, „da haben wir gedacht: Wir müssen was tun!“
Aber was? Zaeri und seine Frau taten das wohl einzig Richtige: Nachdem sie Tati jeden Morgen fragten, wie es ihr ginge, nachdem Tati ihnen von den Raketen und Bomben berichtete und wie sie sich in U-Bahn-Stationen davor schütze, nachdem sie von ihrer kleinen Wohnung an der großen Verkehrsader Kiews schilderte, was draußen vor ihrem Balkon geschehe, der heftige Krach der Explosionen, die Schüsse und die Schreie der Sirenen, taten die beiden einen Schritt der Barmherzigkeit.
„Wir sind nicht nur Territorium“
„Wir haben angefangen, sie anzurufen, sagt Zaeri, „und Tati sagte, sie wolle in so einer Welt nicht mehr leben. Sie hat so geweint, dass man sie nicht mehr verstanden hat. Sie hat gesagt, man könne sich nicht vorstellen, was für ein Tsunami da auf die Leute zukomme. Da habe ich ihr gesagt: Du packst jetzt zusammen und kommst zu uns nach Mannheim. Sie hat gesagt: ’Dann komme ich mit meiner Mutter.’ Das ist ja klar, die kann sie nicht dort lassen. Sie haben drei Taschen gepackt und sind losgefahren.“
Ortswechsel. Göppingen bei Stuttgart. Während Zaeri zusammen mit Verleger Mario Früh Tati und ihre Mutter am Bahnhof abholen, sitzt Zaeris Frau Christina Laube in der Kunsthalle. Auch kreativ sind die Ereignisse am Duo Sourati, wie sich die beiden nennen, nicht spurlos vorübergegangen. In der Schau „Sprechende Bilder - Graphic Novel & Comic“ hat das Paar aus der ursprünglichen Konzeption kurzerhand eine grafische Rauminstallation als Protest gegen Krieg gemacht. Im Raum „Dedicated To Tati“ haben sie einen Satz Tatis unendlich oft an die Wand geschrieben: „We are not just territory, we are people“ - wir sind nicht nur Territorium, wir sind Menschen.
Wer schon mit Zaeri geredet hat, weiß von der Wärme, die von seiner Stimme, von seinen Worten ausgeht. Er ist voller Hoffnung und zutiefst dankbar für all die Menschen, die das Vorhaben des Duo Sourati auch schon vor der Ukraine-Invasion unterstützt haben. Bereits seit Dezember hat die GBG den Künstlern kostenlos eine Wohnung zur Verfügung gestellt, in der sie arbeiten konnten. „Ohne die Möglichkeit, in dieser Wohnung zu üben, hätten wir die große Aufgabe in der Kunsthalle Göppingen nicht geschafft“, meint Zaeri, und nicht zuletzt hätte ihnen die Heidelberger Firma Montana Cans speziell für das Tati-Projekt das gesamte Malmaterial zur Verfügung gestellt - beide Kontakte habe die Alte Feuerwache in Mannheim hergestellt.
Während der Künstler schon wieder im Zug sitzt, schickt er nochmals stolz eine Textnachricht: „Mario und ich rannten wie zwei wilde Hühner auf dem Gleis herum. Wir waren wirklich sehr aufgeregt. Dann eine lange Umarmung. Ich bin schon wieder auf dem Weg nach Göppingen. Mama Julia sitzt jetzt in meinem Atelier im Bett und schaut sich einen alten, russischen Schwarzweiß-Film auf dem Laptop ihrer Tochter an. Tati und Mario fahren durch die Stadt, um die wichtigsten Dinge des Alltags zu kaufen. Die Mama ist sehr müde. Die Tochter ist hungrig nach Leben, nach dem sie die Explosionen der Raketen und Bomben hinter sich gelassen hat. Das Highlight für die Mama, während wir vom Bahnhof zum Atelier fuhren: der Wasserturm.“
„Die Kinder nicht vergessen“
Es macht Zaeri Hoffnung, dass er Menschen um sich hat, die nicht sagen: Wir sind Künstler, wir haben andere Sorgen. Es sei eine Denkweise, „die wir von unseren Eltern mitbekommen haben: Du musst immer die Menschen, Tiere und Bäume um dich herum schützen und ihnen helfen.“ Und dann spricht er von Alea Horst und dem von ihr fotografierten Flüchtlingscamp Moria. Zaeri hat ein Buch mit ihr gemacht. „Wir haben Kinder dort nach ihren Träumen befragt. Jetzt beunruhigt mich wahnsinnig, dass wir die Kinder vergessen, die irgendwo in Polen oder der Türkei sitzen und fast keine Chance haben, ein Dach über dem Kopf zu haben.“
Zuerst aber kann Zaeri mal ein bisschen froh sein. Tati ist da. Und sie hat ein Dach überm Kopf.
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