Mannheim. Eigentlich wollten sie schon lange einmal zusammen arbeiten: der Mannheimer Illustrator Mehrdad Zaeri und Schriftsteller Rafik Schami, der in der Nordpfalz lebt. Weil beide viel zu tun haben und oft auf Reisen sind, ist daraus noch nichts geworden. Bis jetzt. Gemeinsam haben sie die Titelseite unserer Zeitung gestaltet. Ein Gespräch mit Mehrdad Zaeri über Kunst als Rettung, eine zu leise Kirche in lauten Zeiten – und die lästige Steuererklärung.
Herr Zaeri, wie war das, als Sie Rafik Schamis Geschichte zum ersten Mal gelesen haben?
Mehrdad Zaeri: Eigentlich erwartet man ja immer dieselbe Weihnachtsgeschichte. Aber bei dieser besonderen Erzählung ist mir klar geworden, wie mutig diese ganze Idee ist. Da wusste ich: Ich muss mitmachen.
Warum mutig?
Zaeri: Auf Ihrer Titelseite kommen mit Rafik Schami und mir zwei Menschen zusammen, die man nicht mit der Weihnachtsgeschichte verbindet: zwei, die aus islamisch geprägten Ländern, aus dem Iran und aus Syrien, stammen und die man in seiner Schubladen-Denkweise eher unter „Flüchtlinge“ einsortieren würde. Ich finde vor allem diese Entscheidung mutig: Sie lassen uns auf Ihrer wichtigsten Seite eine sehr wichtige Geschichte erzählen – in einer Zeit, in der die Intoleranz in der Gesellschaft zunimmt. Damit gehen Sie das Risiko ein, von Lesern kritisiert zu werden.
Hatten Sie sofort ein Bild zu der Erzählung im Kopf?
Zaeri: Nein. Ich fange an zu zeichnen – und lasse mich davon überraschen, was entsteht. So mache ich es immer. Hier waren es erst die drei Frauen, dann die Geburtsszene. Und während ich daran gearbeitet habe, kam mir die Idee mit der Autobahnbrücke. Plötzlich entstand ein Stau, das war gar nicht meine Absicht. Irgendwann dachte ich: Das schreit nach Mannheim, diese Brücke, die Autos, der Stau. Die Stadt ist gar nicht darauf angewiesen, dass alles schön und geschmeidig ist. Mannheim verkauft sich eben nicht mit Kitsch, sondern mit beinharten Realitäten.
Wie gut kennen Sie und Schriftsteller Rafik Schami sich?
Zaeri: Rafik und ich planen seit zwei Jahren, gemeinsam Bücher zu machen. Wir haben zwar viel darüber gesprochen. Aber wir sind beide sehr oft auf Reisen, deswegen ist noch nichts daraus geworden. Als der „Mannheimer Morgen“ uns gefragt hat, ob wir die Titelseite gestalten wollen, hatten wir uns bereits seit drei Monaten nicht mehr gesprochen. Da waren wir froh, dass es endlich ein konkretes Projekt gibt.
Sie sind als Jugendlicher mit Ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Wann haben Sie die Weihnachtsgeschichte zum ersten Mal gehört?
Zaeri: Sie gehört zum Leben eines muslimischen Kindes. Schon alleine durch Hollywood-Filme sind wir mit christlichen Geschichten großgeworden. Als kleiner Junge hatte ich ein dickes Buch mit vielen Holzschnitt-Illustrationen: das Alte Testament. Dass ich heute so viel mit Schwarz-Weiß arbeite und holzschnittartige Grafiken liebe, hat mit diesem Buch zu tun.
Wie haben Sie das Christentum nach Ihrer Ankunft in Heidelberg erlebt?
Zaeri: Damals, 1986, war die Stimmung gegenüber Flüchtlingen ähnlich aggressiv wie teilweise heute wieder. Die NPD und die Republikaner waren sehr erfolgreich. Ich wurde auf der Straße beleidigt. Für mich – damals ein Jugendlicher – waren das „die Deutschen“, also auch die Christen. Von Nächstenliebe erstmal keine Spur.
Wann hat sich das geändert?
Zaeri: Wir haben sehr bald Menschen kennengelernt, die uns wahnsinnig geholfen haben. Menschen, die die christlichen Werte lebten. Unsere Nachbarn zum Beispiel, Lehrer, unsere Klassenkameraden oder ihre Eltern. Ohne deren Nächstenliebe hätten wir es nicht geschafft in diesem Land.
Erleben Sie auch heute Fremdenfeindlichkeit?
Zaeri: Absolut. Wenn Interviews mit mir im Radio oder Produktionen im Fernsehen laufen, gibt es oft einen riesigen Shitstorm. Beleidigungen gehören dazu. Und ich werde nicht nur im Internet, sondern auch auf der Straße angegangen. Aber ich bin nicht mehr der unsichere Jugendliche, sondern jemand, der diese Gesellschaft gestaltet. Heute denke ich gar nicht mehr darüber nach, ob das Christentum mir gegenüber freundlich ist oder nicht. Ich bin als – wenn auch nichtpraktizierender – Muslim ein Teil der Gesellschaft. Das lasse ich mir nicht nehmen.
Welche Rolle hat die Kunst für den unsicheren Jugendlichen von damals gespielt?
Zaeri: Die Kunst war für mich die erste – und die beste – Tür, die ich öffnen konnte: In meiner Schulklasse in der Internationalen Gesamtschule in Heidelberg haben mich die anderen Kinder überhaupt nur wahrgenommen, weil ich gut zeichnen konnte. Wenn du eine Sprache nicht beherrschst, hast du keinen Charakter. Alles, was du in deiner Heimat warst – ob schüchtern, ob schlagfertig, ob lustig – ist weg. Man kann nicht humorvoll sein, kein Melancholiker, auch kein philosophischer Mensch. Man ist ein komplett weißes Blatt. Erst durch das Zeichnen konnte ich mich zeigen.
In vielen Ihrer Zeichnungen steckt eine gewisse Melancholie.
Zaeri: Die persische Kultur ist eine melancholische. Als ich ein Kind war, trafen sich die Männer manchmal nicht etwa, um ein Bier zu trinken. Sondern um schwermütige Musik zu hören und gemeinsam das Leben zu beweinen. Hinterher fühlten sie sich wohl. Sie hatten keine Angst vor der Melancholie. Doch auch im Iran wird es immer westlicher, immer bunter und fröhlicher. Dabei lieben die Menschen Melancholie, auch hier in Deutschland. Wenn eine meiner Geschichten oder meiner Zeichnungen jemanden zum Weinen gebracht haben, dann schreiben mir diese Menschen oder sie kommen zu mir und erzählen mir das. Es ist keine dunkle Traurigkeit, sondern eine warme, helle. Melancholie ist ein Trost, kein Untergehen.
Sie haben gemeinsam mit Ihrer Frau Christina Laube in diesem Jahr als Duo Sourati eine Hauswand in einem Armenviertel von Amman, der Hauptstadt Jordaniens, besprüht. Was wollen Sie mit dieser Kunst im öffentlichen Raum bewirken?
Zaeri: Zunächst einmal ist sie für uns selbst wichtig: Christina und ich machen keine Dekorationskunst. Wir wollen Geschichten erzählen. Wir haben auch über Geschichten zueinander gefunden: Wir waren Nachbarn und sie kam oft zu mir und wir haben stundenlang Bilderbücher angeschaut und über Erzählungen gesprochen. Wenn wir an Hausfassaden malen, dann möchten wir Geschichten erzählen. Das ist der einzige Beweggrund meines künstlerischen Lebens.
Was für Geschichten sind das?
Zaeri: Wir erzählen den Menschen die Geschichte ihrer Straße. Wir schauen uns den Ort genau an, hören hin, denken lange darüber nach, was er uns erzählt. Es ist uns eine tiefe Sehnsucht, den Menschen das zu zeigen.
Und fühlen Sie sich von den Bewohnern der Straßen verstanden?
Zaeri: Sie bleiben stehen und sagen Dinge wie: „Ich kenne mich ja mit Kunst überhaupt nicht aus. Aber wieso haben sie da oben nichts gemalt, wieso ist es da so leer?“ Und schon sind wir mitten im Gespräch über die Komposition. Oder sie sagen: „Dass es schwarz-weiß ist und nur an der einen Stelle ein bisschen rot, das gefällt mir gut.“ Dann reden wir über Farb- oder Hell-Dunkel-Kontraste. Die Menschen fangen an, sich mit der Kunst zu beschäftigen, ohne es zu merken. Das lieben wir sehr.
In Amman haben Sie sich mit dem Thema Gleichberechtigung beschäftigt. Was haben Sie den Menschen dort erzählt?
Zaeri: Für uns war klar, dass wir eine Frau darstellen, deren Sehnsüchte, Visionen und Träume in Form von Vögeln über ihrem Kopf fliegen. Sie steigen in den Himmel – und es werden immer mehr, je höher es geht. Wir wollten die Geschichte der Frauen im Viertel überdimensional groß darstellen. Ihnen haben wir das Mural gewidmet, aber auch ihren Männern.
Sie arbeiten viel, sind ständig unterwegs. Gönnen Sie sich an Weihnachten etwas Ruhe?
Zaeri: Eigentlich hätte ich schon seit ein paar Tagen Ruhe – wäre da nicht die Steuererklärung. Im Grunde haben wir alle dieselben Probleme, ob Muslim oder Christ.
Mal abgesehen von lästigen bürokratischen Pflichten: Wie verbringen Sie Weihnachten?
Zaeri: Ich feiere mit meiner Frau Christina im Kreis ihrer Familie im Schwarzwald. Darauf freue ich mich sehr.
Würden Sie in die Kirche gehen?
Zaeri: Ich mag Kirchen. Sie sind ein guter Rückzugsort in der Stadthektik. Ich bin auch gerne bei christlichen Gottesdiensten. Aber es stört mich, dass vieles dort nur Schein ist: sowohl, was gepredigt wird, als auch die Anwesenheit der Menschen. Oft kommt sie nicht wirklich von Herzen, sondern weil es zur Tradition gehört. Dass viele Christen nicht mehr zu dem stehen, was ihre Kirche sagt, befremdet mich. Die Kirche ist heute zu leise.
Liegt das an der Kirche oder an den Menschen?
Zaeri: Es liegt an unserer konsumorientierten Gesellschaft. Wir sind gegen den, der uns am Konsumieren hindern möchte. Oder gegen den, der uns sagt, dass wir uns um andere kümmern sollen. Nächstenliebe ist etwas, über das oft geredet wird – aber viele praktizieren sie längst nicht mehr.
Rafik Schamis Geschichte ist ein Sinnbild von Nächstenliebe. Berührt diese Botschaft die Menschen überhaupt noch?
Zaeri: Diese Botschaft wird diejenigen begeistern, die offen dafür sind. Die anderen werden sie entweder nur überfliegen oder sich aufregen. Aber auch das zeigt ja eine Wirkung. Rafik Schami übermittelt uns seine Botschaft auf eine sehr feine Art, ohne dabei belehrend zu sein oder sie direkt auszusprechen. Er zeigt: Auch heute erleben wir die Geschichte der Geburt Christi – zum Beispiel auf der Straße. Aber wir sehen es nicht, sondern laufen oft daran vorbei. Diese Geschichte soll durchs Erzählen wie ein trojanisches Pferd in die Herzen der Menschen hinein gelangen – ohne dass dafür Tore niedergerissen werden müssen.
Erinnert Sie unsere Weihnachtsgeschichte an Ihre eigene Biografie?
Zaeri: Als das Kind einer Familie, die viele Jahre lang auf die Abschiebung gewartet hat, kann ich sie gar nicht lesen, ohne mich darin wiederzufinden: Auf eine Abschiebung zu warten, ist die Hölle. Eine Duldung zu bekommen, die für zwei Monate gilt und immer wieder verlängert werden muss, ist die Hölle. Auch davon erzählt diese Geschichte: von den Menschen unter uns, die nicht wissen, ob sie in zwei Monaten noch ein menschenwürdiges Leben leben dürfen.
Wieso ist Ihre Familie geflüchtet?
Zaeri: Ende der 70er Jahre war mein Vater ein begeisterter Kämpfer für die Revolution, für mehr Freiheit und Demokratie. Kurze Zeit später begann jedoch die große Depression. Man stellte fest, dass man viel mehr kaputt gemacht hatte, als man eigentlich hatte aufbauen wollen. Das Projekt Demokratie kippte in ein totalitäres Regime. Vielen Menschen wurde klar, dass jetzt Zeit ist zu gehen. Dann kam der Krieg. Ich war damals 14, hätte das Land ab Beginn meines 15. Lebensjahres nicht mehr verlassen dürfen, um als Reservist für die Front verfügbar zu sein. Deswegen haben meine Eltern beschlossen: Wir müssen weg, bevor es zu spät ist.
Ihre Mutter und Ihr Vater haben ihr Heimatland und alles, was sie sich dort aufgebaut hatten, mit vier Kindern verlassen – wie ist es ihnen damit ergangen?
Zaeri: Für sie war es ein bitterer Entschluss. Denn meine Eltern hatten im Iran viel erreicht, wir waren sehr wohlhabend. Eigentlich hätten sie sich jetzt zurücklehnen können. Dass sie sich an so einem Punkt entschieden haben, ohne Besitz – und ohne Garantie für irgendwas – zu gehen, das beschäftigt sie bis heute. Sie haben ihre Welt verlassen, ihre eigene Biografie in den Mülleimer geworfen. Wer dabei gewonnen hat, das waren wir Kinder. Wir sind alle erfolgreich in dieser Gesellschaft. Deswegen sagen meine Eltern trotz allem, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben.
Vielseitiger Zeichner mit iranischen Wurzeln
- Mehrdad Zaeri, 49, ist in Isfahan/Iran zur Welt gekommen. Als er 14 war, flüchteten seine Eltern mit ihren vier Kindern über die Türkei nach Deutschland.
- Zaeri machte Abitur in Heidelberg – und wusste früh, dass er Künstler werden will. Eine Kunsthochschule besuchte er jedoch nie. Um anfangs über die Runden zu kommen, fuhr er neun Jahre lang nachts Taxi.
- Mehrdad Zaeri illustriert unter anderem Bücher und gestaltet Kalender.
- Gemeinsam mit seiner Frau, der Mannheimer Fotografin, Autorin und Streetart-Künstlerin Christina Laube, bildet er das Duo Sourati: Von ihnen stammt das Wandbild „Abschied und Neubeginn“ im Quadrat H 5, 3.
- Sie bieten unter anderem Workshops und Werkstattgespräche an, in denen sie von ihrer Arbeit erzählen.
- Neben Lasercut-Versionen von „Aschenputtel“ und „Dornröschen“ ist ein eigenes Bilderbuch der beiden im Knesebeck-Verlag erschienen: „Marthas Reise“. Beim Lasercut-Verfahren handelt es sich um eine Technik, die an Scherenschnitte erinnert.
- Laube und Zaeri leben in der Mannheimer Neckarstadt. Mehr Infos im Internet unter: www.mehrdad-zaeri.de oder www.duo-sourati.de
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