Mannheim. Bedrückung liegt in der Luft, als Laura Leupi und Daniel Arkadij Gerzenberg am Mittwochabend die Bühne der Alten Feuerwache betreten und beginnen, aus ihren Büchern zu lesen. Beide haben sexualisierte Gewalt erlebt und beide haben jeweils eigene künstlerische Gefäße für ihre Erfahrungen gefunden - Prosa und Lyrik. Leupi schreibt Prosa- und Performancetexte und wurde für „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“ bereits im vergangenen Jahr beim Bachmannpreis mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Die Geschichte, die der März Verlag als „autofiktionale Spurensuche“ beschreibt, erscheint ebenda am 20. März auch als Buch.
Der Lyriker Daniel Arkadij Gerzenberg liest aus seinem Buch „Wiedergutmachungsjude“. Er protokolliert darin den sexuellen Missbrauch durch seinen Kinderarzt, mit weitreichenden Folgen für nahezu alle Lebensbereiche. Auch er arbeitet mit einem autofiktionalen Ich.
Die Autorinnen Asha Hedayati („Die stille Gewalt: Wie der Staat Frauen alleine lässt“) und Christina Clemm („Gegen Frauenhass“) schließen im Gespräch mit Moderatorin und Programmleiterin, Insa Wilke, an die Texte von Leupi und Gerzenberg an. Beide arbeiten als Anwältinnen, Hedayati im Familienrecht, Clemm im Straf- und Familienrecht. Sie vertreten Frauen sowie weiblich gelesene Personen, die Gewalt erfahren haben. Was sie zu sagen haben, zeigt einmal mehr, dass die Erfahrungen Betroffener keine Einzelfälle darstellen, sie haben strukturellen Charakter. Hedayati betont, dass das Patriarchat Gewalt nicht nur nicht verhindere, sondern sie sogar begünstige.
Die Zahlen sprechen Bände, jede dritte Frau erlebt laut Statistik mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexualisierte Gewalt, jede vierte Frau erfährt diese Gewaltformen durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Hedayati weist auf das große Dunkelfeld hin, doch Daten dazu fehlen. Denn die letzte große Dunkelfeldstudie stammt aus dem Jahr 2004, eine neue ist mittlerweile beauftragt - aber fast 20 Jahre fehlten bundesweite Zahlen hierzu.
Berufsalltag für Christina Clemm "häufig furchtbar frustrierend"
Das Hellfeld decken jährliche Erhebungen des Bundeskriminalamtes ab - allerdings nur angezeigte Fälle. Und tatsächlich angezeigt werden nur wenige Taten. Clemm schildert, dass es dann wiederum nur bei einem Bruchteil zu Verurteilungen komme. Ihr Berufsalltag sei „häufig furchtbar frustrierend“, sagt Clemm - auch, weil sich in den vergangenen 30 Jahren ihrer Tätigkeit kaum Verbesserungen für Mandantinnen eingestellt haben. Gleichzeitig müsse in Zeiten des erstarkenden Rechtsextremismus alles für den Schutz des Rechtsstaates getan werden.
Der Mannheimer Morgen auf WhatsApp
Auf unserem WhatsApp-Kanal informieren wir über die wichtigsten Nachrichten des Tages, empfehlen besonders bemerkenswerte Artikel aus Mannheim und der Region und geben coole Tipps rund um die Quadratestadt!
Jetzt unter dem Link abonnieren, um nichts mehr zu verpassen
Auf dem Podium wird auch über das Gefühl der Scham gesprochen. Hedayati beschreibt es als „sehr wirkmächtig“, die „permanente Täter-Opfer-Umkehr“ vonseiten des Staates aber auch von der Gesellschaft mache es Betroffenen schwer, aus der Scham herauszukommen. „Scham bekommen wir antrainiert, von frühester Kindheit an und das wird von Tätern ausgenutzt. Damit man keine Sprache hat für das, was geschieht“, ergänzt Clemm. Obwohl es so viele Täterstrategien gebe, sei die Justiz kaum auf sie vorbereitet - auch, weil wie Clemm ausführt, Fortbildungen für Richterinnen und Richter nicht verpflichtend sind. „Klassismus, Rassismus und Sexismus machen vor Gericht und Polizei nicht Halt“, ergänzt Hedayati.
Sie wünscht sich, von Wilke danach gefragt, „echte Prävention“, die der Gewalt ein Ende setzt bevor sie überhaupt stattfindet. Aus ihrer Sicht sei das „nicht utopisch“, sofern Deutschland die "Istanbul-Konvention" - ein Übereinkommen des Europarates, dem sich die Bundesrepublik 2018 verpflichtet hat - konsequent umsetzt. Clemm meint: „Es wird nur funktionieren, wenn sich die Gesellschaft verändert.“ Sie plädiert unter anderem für ein anderes Bild von Männlichkeit, für eine Kindererziehung, die nicht stereotyp ist. „Kurz gesagt: Wir müssen das Patriarchat abschaffen“, schließt Clemm.
Die Literatur als richterliches Werkzeug genutzt
Leupi und Gerzenberg spannen nach dem Podiumsgespräch den Bogen zurück zu Prosa und Lyrik. Leupi kommt beim Buchstaben U an: „“U steht für die Unsichtbarkeit der Betroffenen. Und die Unsichtbarkeit der Täter*innen: Warum sehen wir euch nicht?“ Sie stellt Fragen, die Zuhörenden suchen nach Antworten. Gerzenbergs Worte „Kinderarzt schützt Kinderarzt, nicht Kind“ hallen nach. Weil das Strafverfahren, das er protokollhaft beschreibt, eingestellt wird, nutzt er die Literatur als richterliches Werkzeug. Mit „Der Angeklagte wird deshalb in Lyrik eingesperrt“ setzt er den Schlusspunkt. Gänsehaut.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-lesenhoeren-wie-laesst-sich-das-patriarchat-in-uns-begraben-_arid,2183544.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/formen-der-gewalt-erkennen-80642