Jede vierte Frau in Deutschland macht Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. Um die Situation zu ertragen, kommen oft Alkohol und andere Drogen ins Spiel. Eine Suchterkrankung ist jedoch ein Ausschlusskriterium, um in einem Frauenhaus aufgenommen zu werden - damit wird die Situation der Frauen, die von beidem betroffen sind, umso prekärer. Um diese Lücke zu schließen und mit speziellen Hilfsangeboten auf die betroffenen Frauen einzugehen, schloss sich 2021 das Mannheimer Frauenhaus mit dem Drogenverein zusammen, um das Projekt Segel zu starten. Bis 2023 war es vom Ministerium bewilligt, nun wurde es bis Ende 2024 verlängert.
Aus Anlass des bevorstehenden Weltfrauentages an diesem Freitag zogen nun die Initiatoren eine Zwischenbilanz, die äußerst positiv ausfiel. Auch, wenn der Anfang etwas schwierig verlief, weil der Wohnungsmarkt ein Nadelöhr ist, konnten zwei Wohnungen mit Plätzen für jeweils vier Frauen und maximal sechs Kinder geschaffen werden. Insgesamt konnten bisher acht Frauen mit einer Aufenthaltsdauer zwischen drei und elf Monaten aufgenommen werden.
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Von einem „Leuchtturmprojekt“ sprach Staatssekretärin Ute Leidig, die zur Pressekonferenz gekommen war. „Wir wollen die Istanbul-Konvention in Baden-Württemberg kontinuierlich umsetzen. Dazu gehört auch, dass wir besonders schutzbedürftige Frauen in den Blick nehmen“, so Leidig. Das Projekt Segel ist bundesweit das erste Angebot für suchtkranke Frauen und wird von allen Beteiligten zur Nachahmung empfohlen.
Bei der Istanbul-Konvention handelt es sich um das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, ein völkerrechtlicher Vertrag, der 2011 ausgearbeitet wurde und 2014 in Kraft trat. „In ganz Deutschland gab es kein adäquates Angebot, die Frauenhäuser sind überfordert mit multiplen Problemlagen“, sagte Nazan Kapan, Geschäftsführerin des Mannheimer Frauenhauses.
Ziel des Projektes Segel von Frauenhaus und Drogenverein: Neustart in eigener Wohnung
„Wir haben eine Frau aufgenommen, bei der sich erst später herausstellte, dass sie eine Suchterkrankung hatte. Sie hat sich selbst gefährdet, die Polizei musste kommen. Die Frau kam in eine Fachklinik. Die anderen Frauen und ihre Kinder waren tagelang beunruhigt nach diesem Vorfall“, so Kapan. „Der Erfolg von Segel begründet sich auf einem gut funktionierenden Netzwerk“, fügte Philip Gerber vom Drogenverein hinzu. „Wenn wir eine neue Frau aufnehmen, brauchen wir sofort ärztliche Versorgung, zum Beispiel eine Entgiftung.“ Diese erfolgt im ZI.
Ziel ist es, Frauen und Kindern einen Neustart in einer eigenen Wohnung zu ermöglichen. „Wir lassen die Frauen zur Ruhe kommen und haben Geduld, bis sie sich öffnen. Sie lernen, ihre Gefühle zuzulassen, Selbstwirksamkeit zu erfahren und aus der Opferrolle herauszukommen“, sagte Gülbeyaz Kaçar, fachliche Leiterin des Projekts Segel. „Auch bei formellen Dingen wie Wohnungssuche bekommen sie Unterstützung.“
Mannheimer Projekt Segel für suchtkranke und von Gewalt betroffene Frauen: Noch gibt es zu wenig Plätze
Auf das Thema Alkohol in Verbindung mit Gewalterfahrung ging Katrin Lehmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband näher ein: „Die Frauen trinken, weil es ihre Bewältigungsstrategie ist, sie stecken in intimen Gefangenschaften. Alkoholabhängigen Frauen wird oft nicht mit Sympathie begegnet, in der öffentlichen Meinung sind trinkende Frauen schlimmer als trinkende Männer. Allen diesen Frauen müssen wir einen Schutzplatz bieten können. Sie haben keine Ressourcen, sich am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.“ Noch gibt es zu wenig Plätze, „ein Mehr davon“ wünschte sich Sozialbürgermeister Thorsten Riehle: „Aus einem Pilotprojekt kann man eine Regelstruktur erstellen, Mannheim könnte bundesweit als Vorbild strahlen.“
Nach der Pressekonferenz berichtete eine Betroffene, die in einer Segel-Wohnung lebt, von ihren Erfahrungen. Aus Gründen der Anonymität will sie „Frau Müller“ genannt werden. „Ich habe mit einem Narzissten zusammengewohnt, über 40 Jahre lang. Er hat mich gedemütigt, ich hatte für ihn 24-Stunden-Dienst. Ich habe Alkohol getrunken und bin abgemagert. Meine Hausärztin meinte, wenn ich jetzt nicht handle, liege ich unter der Erde.“
Müller war psychischer Gewalt ausgeliefert. Sie wandte sich an die Polizei, die ihr einen Platz bei der Diakonie vermittelte. Dort stieß sie mit einer Mitarbeiterin auf das Segel-Projekt. Nach einem Vorgespräch bekam Müller eine Zusage. „Ich war ein Häufchen Unglück und habe mich in meinem Umfeld geschämt, dass ich trinke. Ich habe nicht mal richtig gepackt, nur zwei Einkaufstaschen vollgemacht und nur noch weg, weg. Nur nicht nach hinten schauen.“
In der Segel-Wohnung selbst darf nicht konsumiert werden, also trank Müller außerhalb. Nach einer Entgiftung im ZI ging es bergauf, da Müller „liebe Betreuer“ um sich hatte. „Die Gespräche im ZI haben mir sehr geholfen, sie haben mich wieder auf die Beine gebracht.“ Seit einem halben Jahr ist sie trocken, nun richtet sie den Blick in die Zukunft und sucht eine eigene Wohnung, was sich schwer gestaltet. „Ich lebe schon viele Monate im Haus Segel. Ich blockiere den Platz, weil ich keine Wohnung finde“, sagte Müller, die auch an andere Frauen mit den gleichen Problemen denkt. „Ich würde mich freuen, wenn das Projekt weiterlaufen könnte.“
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