Mannheim. 07:06:06:18:11:15 - Zahlen gibt es viele an diesem Abend. Hier bezeichnen sie bei Vorstellungsbeginn vom Jahr bis zur Sekunde die Zeit, bis bei unverändertem Kohlendioxidausstoß das weltweit zur Verfügung stehende CO2-Budget aufgebraucht sein wird. Auf der Carbon Clock ist es also fünf vor zwölf, sofern die Menschheit die globale Erderwärmung bei 1,5 Grad gegenüber den vorindustriellen Durchschnittstemperaturen aufhalten will.
Ohne diese Voraberklärung kann es nicht losgehen, weder hier noch im Theater, wo eigentlich Wissenschaftsministerin Theresia Bauer Publikum und Ensemble begrüßen und in der Wichtigkeit des Anliegens wie des Bühnenprojektes hätte bestätigen sollen - komplizierter Satzbau für komplexe Projekte: Eigentlich sollte Theaterregisseur Gernot Grünewald schon vor zwei Jahren ein Stück über die Klimakrise zur Aufführung bringen. Dann kam die Pandemie. Jetzt kam das Projekt „Siebenundzwanzig Jahre“ in aktualisierter - um den Corona-Sachverhalt erweiterter - Form als „2027 - Die Zeit, die bleibt“ auf die Bühne des Schauspielhauses.
Regisseur Gernot Grünewald und das Klima-Projekt
- Gernot Grünewald, geboren 1978, studierte Schauspiel an der Ernst Busch Schule Berlin. 2003 wurde er Ensemblemitglied in Stuttgart, 2007 begann er ein Regiestudium an der Theaterakademie Hamburg.
- Für „ankommen“, ein Projekt mit unbegleiteten Flüchtlingen am Thalia Theater, wurde er 2016 mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis ausgezeichnet. Er inszeniert meist gegenwartsbezogene Recherche- und dokumentarische Projekte.
- Grünewald inszenierte „2027 – Die Zeit, die bleibt“ mit vier NTM-Ensemblemitgliedern, außerdem wirken sieben Mannheimer Jugendliche sowie zehn Bürgerinnen und Bürger des Mannheimer Stadtensembles mit: Monika Altnöder, Hubert Bardenheuer, Keona Buvari, Mia Aurora Claus, Florian Ederle, Melina Gebhardt, Sönke Hoffmann, Hana Kadrija, Ina Krehbiel, Zofia Luczynska, Jan Henri Müller, Edi Schlüter, Marlit Schölch, Anna Struve, Hermann Theisen, Nils Urbanus und Ulla Zellman-Seyfferth.
- Weitere Vorstellungen am 28. Januar, 19.30 Uhr, sowie am 23. Februar, 19 Uhr, im Schauspielhaus des Nationaltheaters. Karten gibt es unter 0621/16 80 150.
Sie merken, hier braucht man das ganz große Erklärbesteck. Einleitende Worte sprach nun Intendant Christian Holtzhauer, weil Theresia Bauer eines (kontaktbedingten) ausstehenden PCR-Tests wegen nicht kommen konnte. Sein Dank für Resilienz und Motivationserhalt in Künstlerkreisen zu Corona-Zeiten erntet herzlichen Applaus.
Mit 17 Bürgerinnen und Bürgern
Spontanen Szenenapplaus gibt es später nicht nur von Neckarauern für das „Wunder von Mannheim“, wie noch anno 2009 ein von Wohngebieten umschlossenes Großkraftwerk den Kohle-Block 9 mit der (2010) deutschlandweit zweithöchsten CO2-Emission bauen konnte.
Bis dahin blicken wir auf 17 Menschen aus Mannheim. Zwischen 13 und 74 Jahren sind sie alt. Sie kochen, lernen, schlafen, telefonieren, arbeiten, stricken oder lesen Zeitung. Michael Köpke hat auf seiner Bühne Lebensinseln für sie geschaffen. Zwischen Küchenzeile, Plastikgrünpflanzen, Sofa und Leitz-Ordnern vollzieht sich ganz normales Leben im ganz normale Klimawahnsinn, der Strom, Gas, Kohle (ver)braucht. Grünewald und sein Team haben mit den sieben Schülern des Elisabeth-Gymnasiums und den zehn Mitgliedern des Stadtensembles gesprochen. Wie müssen wir Leben und Wirtschaftsweise ändern, um die Klimakatastrophe wenigstens hinauszuzögern? Neugierig blicken die Kameras von Thomas Taube auf diese Mannheimer, selten wirkte Videoarbeit so unaufgeregt und tiefgründig.
Ihre manchmal live vorgetragenen, meist aber selektiv aufgezeichneten (berührenden) Ein- und Ansichten werden in gut geschnittenen Einspielern zwischen die im Doku-Theater obligaten Faktenblöcke geschoben: Prozente, Kubik, Geld, Schadstoffe, Jahre, Summen. Damit hier vor lauter Zahlenwerk kein ästhetisierter Frontalunterricht aufkommt, lässt Regisseur Grünewald Profis ans Werk: vier Mit- und Ohngliederinnen des Schauspielensembles, die ihrer Sache richtig gut machen. Maria Munkert gibt eingangs dem (überlangen) naturwissenschaftlichen Weltentstehungsmonolog biblische Genesis-Dimension.
Nicolas Fethi Türksever überzeugt nicht nur als SARS-Fledermaus (Kostüme: Günter Lemke), er singt auch verdammt gut. Dank seiner glaubwürdigen Agitationsbegabung sollte er fürderhin noch die Vornamen Che-Fidel-Rudi tragen.
Sophie Arbeiter geht (mit kristallklarer Sprache) hart ran an die Ausreden der bräsigen Wohlstandsgesellschaft - und Patrick Schnicke sogar in die Luft. An Erd- oder zumindest Heimatverbundenheit wird musikalisch gefühlig mit Wiegen- und Volksliedern appelliert (Musik: Daniel Sapir). In diesem politischen und auf Lokalebene sogar brisanten Diskurs kommt somit durchaus auch Poesie auf.
Doch primär ist dieser Theaterabend ein Weckruf an die, die noch diskutieren statt handeln wollen. Von einer „Theaterdystopie zur Klimakrise“ zu sprechen, verbietet sich eigentlich. Gernot Grünewald geht nicht von finsteren Zukunftsvisionen aus, er ist ganz in der Gegenwart.
Ist Gewalt doch eine Lösung?
Der Fragilität unseres Ökosystems hat dieser zweite „Versuch über die Klimakrise“ noch die Virenproblematik durch Lebensraumverknappung und die Frage der Radikalisierung eingeschrieben. Dieses Theater buhlt um Betroffenheit, auch das Etikett Agitprop kann man ihm stellenweise nicht ersparen. Ist Gewalt eine Lösung?
Gesungene Kapitalismusschelte gegen HeidelbergCement und die Weltwirtschaft (zu „Ein Bett im Kornfeld“) mag man noch für wohlfeilen Theaterdonner halten. Den Kampfaufruf, zwar nicht zum Kapitol, aber mit Ketten aus der Vorstellung heraus zum Mannheimer Großkraftwerk zu ziehen oder SUVs auf den Straßen zu demolieren - das hat eine andere Dimension. Ist der Gewaltaufruf nun „nur Thema“ - oder sind wir hier schon einen Schritt weiter, gar auf Messers Schneide? Oder doch nur im Theater? Manche stehen tatsächlich auf. Aber nur, um heftig zu klatschen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-klimaprojekt-fordert-den-marsch-zum-grosskraftwerk-mannheim-_arid,1903197.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html