Mannheim. Eine große Klappe haben viele, viel dahinter oft nicht. Über David Julian Kirchner wird Letzteres wohl niemand behaupten. Mit einem fulminanten Konzert seines Projekts IG Pop in der Reihe „Cin //Cin // wild & lokal“ des Mannheimer Capitols bestätigt der Popakademie-Absolvent am Freitagabend die Elogen, die sein gleichnamiges Album auch in großen Magazinen bekommen hat. Aber der gebürtige Mainzer ist nicht nur ein guter Sänger, Musiker, Bandleader und zählt zu den wohl konzeptionsstärksten deutschen Künstlern der letzten Jahre – wie der gewerkschaftnahe Titel „IG Pop“ nahelegt, ist er auch ein Aktivist der ernstgemeinten, ambitionierten Popkultur, die nicht nur erfolgreich unterhalten will. Da es diese Art von Kunst nach der Pandemie anhaltend schwer hat, agiert Kirchner auch als Klassenkämpfer in eigener Sache – der Pop-Beruf müsse mehr sein als ein teures Hobby.
Manifest im "Mannheimer Morgen"
Das ist einer der Kernsätze seiner Kampfschrift „Das IG POP Manifest der Prekari-Art“, das er zum 1. Mai 2023 im „Mannheimer Morgen“ veröffentlicht hat. Was durchaus Wellen geschlagen hat, unter anderem beim Auftakt der Landesinitiative „Popländ“ in Mannheim zum Dialog mit der Szene in Baden-Württemberg. Und Kirchners Konzert beim Mini-Festival, bei dem das Capitol Newcomer-Bands aus der Region ein Forum bietet, unterstreicht die prekäre Situation der Pop-Kreativen doppelt und dreifach.
Auf der Bühne stimmt nämlich alles: Qualität, Spielfreude, Einsatz, Originalität, mitreißende Energie und Unterhaltungswert. Sehen wollen das (und Kabinett, die zweite Mannheimer Band des Abends) nur 100 Zuschauer. Aber was heißt nur? Im Vorjahr zeigte das „Cin Cin“-Event am deutlichsten, wie schwer es noch nicht etablierte und kleinere Acts seit Pandemiebeginn haben: Für zwei Tage wurden in Capitol und Alter keine 30 Karten verkauft. Und das trotz der schlüssigen Idee, den jungen lokalen Wilden größere Bands wie Jupiter Jones an die Seite zu stellen.
Immerhin nicht abgesagt wie im Vorjahr
Nun musste „Cin Cin“ immerhin nicht wie 2022 abgesagt werden. Das ist ein Fortschritt, wenn auch nicht kostendeckend bei halbwegs angemessenen Gagen. Da kann sich auch mal das potenzielle Publikum hinterfragen, ob schmale 15 Euro nicht besser an der Abendkasse von Kirchner und Co. aufgehoben sind als in der Portokasse von Bruce Springsteen oder den Red Hot Chili Peppers bei den megalomanisch großen Open Airs des Jahres auf Hockenheimring oder Maimarktgelände.
Beeindruckende Enya Specht am Schlagzeug
Zumal man bei Kirchners IG-Pop-Band extrem hochkarätige Musikerinnerinnen aus nächster Nähe bewundern kann: Neben dem bestens bekannten Veteranen Thilo Eichhorn, bis Ende 2022 ironischerweise Musiksachbearbeiter beim Mannheimer Kulturamt, als Zauberer an Keyboards und Synthesizern beeindruckt die junge, aber hochgehandelte Rhythmusgruppe von der Popakademie. Dass sie rein weiblich besetzt ist, kann man durchaus als Statement sehen. Denn vollkommen selbstverständlich ist das für Bass und Schlagzeug immer noch nicht. Alles andere als selbstverständlich ist das Spiel von Drummerin Enya Specht, die allen Ernstes mit der Wucht und Präzision der „Menschmaschine“ Robert Görl am Schlagzeug von DAF mithalten kann. Lonteshia Jayne Stripf hat am Bass weniger Gelegenheit, derart zu glänzen - gefühlt singt sie mehr, als dass sie souverän und songdienlich das Fundament des Kirchnerschen Gesamtkunstwerks rhythmisch befüllt.
"Die Internationale" am Anfang
Das beginnt quasi mit der Hörbuchfassung seines Manifests als Einleitung für die komplett gespielte Platte „IG Pop“. Das Quartett kommt quasi in einheitlicher Werkskluft auf die Bühne (später eingetauscht in silberglänzende „Major Tom“-Raumanzüge) und verblüfft mit „Die Internationale“ zu knochentrockenen Electro-Beats aus dem Ghetto-Blaster. Zeilen wie „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!“ erwartet man seit dem Ende der DDR normalerweise nur noch auf Parteitagen oder echten Gewerkschaftstreffen.
Dass Kirchner sich und seiner Popgewerkschaft kämpferische Arbeiterlieder auf die Fahne geschrieben hat, mag vielleicht auch abschreckend wirken. Das Konzept klingt so, dass selbst der Kultursender Arte es eher nach drei Uhr morgens senden würde. Nahezu genial wird es dadurch, dass der Songwriter auf dem Vorgängeralbum die andere Seite des Kapitalismus aus der Perspektive des fiktiven Konzerns Kirchner Hochtief durchleuchtet hat.
"Klassenkampf gehört wieder auf die Tanzfläche!“
Live erweist sich der 40-Jährige als brillanter Hochtief-Stapler in der Tradition charismatischer Pop-Chamäleons à la David Bowie. Mit bekannten Versatzstücken (unter anderem Kraftwerk, Neue Deutsche Welle, Phil-Collins-Drum-Sounds und Disco-Funk unter Heinrich Heines Gedicht „Die schlesischen Weber“) rücken seine Lichtjahre von Kurt Weill und Co. entfernten Neuvertonungen und Eigenkompositionen die frappierend aktuellen Texte (vor allem: „Der heimliche Aufmarsch“ aus dem Jahr 1927) ganz anders ins Bewusstsein. Und machen sie teilweise sogar tanzbar. Zu Recht fragt Kirchner von der Bühne herab: „Warum singt diese alten Lieder niemand? Klassenkampf gehört wieder auf die Tanzfläche!“
"Bella Ciao" der Partymeute entrissen
Höhehepunkte sind schweißtreibende eigene Nummern wie „Papierkramland“, „Jugend total“ und vor allem „IG Pop (Boys & Girls)“. Ein Höhepunkt ist die einzige Zugabe: „Bella Ciao“ als psychedelisch-melancholische Space-Jazzballade unter ECM-Verdacht mit Damen-Gesang und Prince-Gitarrensound. Auch hier zeigt sich der Vorteil radikaler Coverversionen: Der todtraurige Text wird der Partymeute entrissen, denn der Partisan im Text verabschiedet sich ja nicht von seiner Schönen, weil früh am Morgen der nächste Sangria-Eimer auf ihn wartet. So geht Pop-Klassenkampf!
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