Interview

Jüdischer Kantor aus Mannheim: "Oftmals ist die schweigende Mehrheit zu schweigsam"

Im Interview erklärt Amnon Seelig, Kantor der Jüdischen Gemeinde Mannheim, wie er die Zeit seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober erlebt und wo Antisemitismus für ihn anfängt

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Positioniert sich mit deutlichen Worten gegen Antisemitismus: Amnon Seelig vor dem Mannheimer Café Prag. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. Herr Seelig, Sie sind seit 2017 in Mannheim. Wie entwickelt sich seitdem die Jüdische Gemeinde am Rabbiner-Grünewald-Platz?

Amnon Seelig: Eine jüdische Gemeinde ist eine sehr dynamische Sache und muss immer in den Bereichen aktiv sein, wo es für die Gemeindemitglieder gerade nötig ist. Nach wie vor haben wir eine gute Teilnahme an Gottesdiensten und Kulturveranstaltungen. Wir pflegen gute Beziehungen zu vielen anderen Organisationen der Stadtgesellschaft. Wir wollen das anbieten, was unsere Gemeindemitglieder wollen und brauchen.

Das sind vermutlich dieselben Dinge, die auch andere Glaubensgemeinschaften anbieten, oder? Singen, beten, meditieren, feiern?

Seelig: Unsere Gebete werden gesungen, sowohl von mir als auch von der Gemeinde. Wir feiern unsere Feiertage gemeinsam, essen gemeinsam und lernen gemeinsam. Meditieren tun wir nicht, das gehört nicht zu unserer religiösen Praxis.

Kantor Amnon Seelig



  • Amnon Seelig, 1982 in München geboren, wuchs in Israel auf. Er schloss sein Gesangs- und Musiktheoriestudium an der Jerusalemer Musikakademie jeweils mit einem Bachelor und sein Gesangsstudium an der Hochschule für Musik Karlsruhe mit dem Master ab.
  • Ab 2010 folgte ein Masterstudiengang in Jüdische Studien an der Universität Potsdam. 2015 wurde er vom Abraham-Geiger-Kolleg als Synagogenkantor ordiniert. 2015 wurde er Kantor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, 2017 in Mannheim.
  • Seelig ist Vater von drei Kindern.

Wie wohl fühlen Sie sich in Mannheim - in einem Quadrate-Umfeld, das ja doch auch sehr muslimisch geprägt ist?

Seelig: Wie jede jüdische Gemeinde in Deutschland, sind wir Ziel für Antisemiten, ob von der islamistisch-radikalen oder rechtsextremen Seite. Das hat sich seit dem 7. Oktober für alle jüdischen Gemeinden deutlich verschärft. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass wir in den Mannheimer Quadraten weniger sicher sind als andere Gemeinden, die in weniger muslimisch geprägten Stadtteilen liegen.

Muss ich Ihrem Ausweichen auf meine Frage entnehmen, dass es gar nicht so sehr um ein Wohlfühlen geht, sondern um ein Sich-sicher-fühlen?

Seelig: Ich habe nicht versucht, auszuweichen. Ich sage nur, dass die Lage für alle jüdischen Gemeinden momentan schwierig ist. In diesem Sinne sind wir nicht anders oder stärker bedroht, nur weil wir uns in einer muslimisch geprägten Gegend befinden. Viele unserer Gemeindemitglieder, mich eingeschlossen, fühlen sich seit vier Monaten in Deutschland eindeutig weniger wohl. Antisemitismus, sowohl in klassischer Form oder als israelbezogener Antisemitismus, nimmt in einem Ausmaß zu, wie wir es in unseren Lebzeiten noch nicht gesehen haben und uns auch nicht haben vorstellen können.

Viele unserer Gemeindemitglieder, mich eingeschlossen, fühlen sich seit vier Monaten in Deutschland eindeutig weniger wohl.

Unter israelbezogenem Antisemitismus verstehen Sie vermutlich, dass, wenn man Israels Politik kritisiert, man auch automatisch Juden kritisiert?

Seelig: Jeder Mensch auf Erden kritisiert irgendeine Regierung. Sind Sie mit der deutschen Politik einverstanden?

Teilweise.

Seelig: So geht es auch mir mit der israelischen Politik. Die Politik Israels zu kritisieren, ist an sich kein Antisemitismus. Israelbezogener Antisemitismus ist, wenn man das Wesen Israels an sich kritisiert, wenn man sagt, Israel hätte kein Existenzrecht, und die Juden sollen von dort verschwinden, oder dass die Juden kein Recht auf nationale Selbstbestimmung haben. Das sehen wir zum Beispiel bei Free Palestine in Mannheim. Die haben auf ihrer Flagge die ganze israelische Landkarte mit den palästinensischen Farben eingefärbt. Aber wenn jemand Netanjahu kritisiert, ist das nicht unbedingt Antisemitismus.

Die Lage ist traurig. Deswegen gehen derzeit sehr viele Menschen auf die Straße. Was sollten oder könnten die Leute darüber hinaus tun, was die Politik?

Seelig: Die Menschen demonstrieren gegen die AfD, was wichtig ist. Mich stört es jedoch enorm, dass viele dieser Demonstrationen, auch in Mannheim, von antisemitischen Gruppen gekapert werden, ohne dass die Veranstalter dagegen etwas tun. Die Politik kämpft gegen den Antisemitismus von rechts, duldet aber den Antisemitismus von links. Die Menschen sollten zu dem, was sie glauben, Stellung beziehen. Oftmals ist die schweigende Mehrheit zu schweigsam.

Ich verstehe das sehr gut. Es gab in Mannheim aber juristisch offenbar keine Möglichkeit und kein offizielles Verbot für Palästinenserflaggen, was Sie ja auch meinen. Antisemitische Äußerungen können strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie zur Anzeige gebracht werden. Das ist komplex und kompliziert. Was genau würden Sie sich wünschen in so einem Moment?

Seelig: Es ging bei der Demo nicht um das juristische Recht, sondern um die Ansage der Veranstalter, dass keine Nationalflaggen geschwenkt werden dürfen. Ich hätte mir gewünscht, dass den propalästinensischen Demonstranten klar gemacht wird, dass, wenn sie sich an die Regeln der Demonstration nicht halten und ihre Flaggen nicht zur Seite legen, sie von der Polizei herausgeleitet werden. Inzwischen wissen wir von der Polizei, dass das auch möglich war.

Sie glauben an denselben Gott wie Muslime und Christen. Was macht dieser Konflikt mit Ihrer Beziehung zu Gott, den alle für sich beanspruchen?

Seelig: Meine persönliche Beziehung zu Gott hat sich nicht verändert. Ich beanspruche Gott nicht.

Wer glaubt, dass Gott mit den unbeschreiblich barbarischen Gräueltaten des 7. Oktober zufrieden ist, muss, meiner bescheidenen Meinung nach, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden.

Ich habe gerade über einen in Israel lebenden Palästinenser gelesen, der gesagt hat: Wir als Muslime wissen, dass Gott auf unserer Seite steht. Ich habe mich da einfach gefragt, woher der Mann das wissen will …

Seelig: … wer glaubt, dass Gott mit den unbeschreiblich barbarischen Gräueltaten des 7. Oktober zufrieden ist, muss, meiner bescheidenen Meinung nach, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden.

Da bin ich zu 100 Prozent Ihrer Meinung. Aber gilt der gleiche Satz am Ende auch für die Reaktion auf die Gräueltat?

Seelig: Der Vergleich ist falsch, die Motivation für diesen Krieg ist der Angriff am 7. Oktober, sie ist nicht religiös. Der Verlust jedes unschuldigen Menschenlebens ist tragisch, doch Israel hat diesen Krieg nicht begonnen und ist der Einzige, der versucht, ihn zu beenden. Mehr als 130 israelische Geiseln befinden sich nach wie vor in Gefangenschaft. Andere Länder hätten an Israels Stelle Gaza einfach ins Glas bombardiert und Soldatenleben nicht durch eine Bodenoffensive riskiert. Wäre Israel ein muslimisches Land gewesen, hätte dieser Krieg niemanden in Europa interessiert. Deswegen glaube ich nicht, dass es hier um Sorge um Menschenleben geht, sondern um israelbezogenen Antisemitismus.

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Der Austausch von Geiseln wird aber das Grundproblem nicht lösen. Die Wurzel des Ganzen scheint ja geografisch und gegenseitige Geringschätzung, ja, Hass zu sein. Gibt es für Sie in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine denkbare Lösung?

Seelig: Natürlich gibt es eine Lösung, vielleicht sogar mehrere Lösungen. Allerdings müssen beide Seiten bereit sein, Kompromisse einzugehen. Historisch gesehen war Israel immer bereit, Land im Austausch für Frieden zu geben. Doch noch vor dem 7. Oktober befürworteten weniger als 30 Prozent der Palästinenser eine Zweistaatenlösung. Ich glaube, es wird noch einige Zeit dauern, bis die Mehrheit der Palästinenser bereit ist, Israel anzuerkennen. Wenn die langfristige Position der Palästinenser jedoch darauf abzielt, Israel abzuschaffen, kann man nicht von einer Lösung sprechen.

Wenn man auf das Leid der Palästinenser hinweist, wird man sehr schnell zum Antisemiten abgestempelt. Wie kann das sein?

Seelig: Ich sehe das anders. Ich habe selber beim ökumenischen Friedensgebet auf das Leiden der Palästinenser hingewiesen und um ein Ende des Krieges gebetet. Bin ich etwa Antisemit? Keiner bestreitet, dass die Palästinenser leiden, sie leiden aber an Folgen der Hamas-Regierung, die nur in Terror investiert und aus der Mitte der Bevölkerung kämpft. Es ist eine deutsche Empfindlichkeit, diese Angst, die israelische Politik zu kritisieren. Antisemit ist derjenige, der das Existenzrecht Israels bestreitet, der behauptet, Juden seien in Israel ein Fremdkörper oder eine kolonialistische Macht. Und solche Antisemiten sehen wir leider öfter.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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