Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur. Die Welt sieht nach der Terrorattacke der Hamas nicht nur für den Staat Israel anders aus, sondern auch für jüdische Gemeinden. Zunehmend ungezügelter Antisemitismus bricht sich Bahn. Da stutzt man kurz, wenn man die Einladung der Jüdischen Gemeinde in Mannheim für Mittwochabend liest: „Polnische Lyrik gegen den Hass“ lautet der Titel eines musikalisch umrahmten Abends mit dem Krakauer Autor, Archäologen und Musiker Pawel Krzak. Bei freiem Eintritt, ohne Voranmeldung, ganz in der Nähe von Mannheims quirligem Viel-Völker-Viertel am Marktplatz.
Wenn man das Gemeindezentrum betritt, entpuppen sich Beklemmung oder gar Angst schnell als Journalisten-Fantasie. Die Security wirkt entspannt. Der dezent in der Nähe platzierte Streifenwagen gehört zur Routine, wie die Polizei bestätigt. Im für einen Lyrik-Abend erstaunlich gut besuchten Saal herrscht vor allem wohltuende Normalität. Deborah Kämper, der Vorsitzenden der Gemeinde, ist es wichtig, trotz allem „ein offenes Haus zu bleiben“. Sie hat den Abend initiiert, weil sie Krzak als Führer bei einer Reise nach Krakau und Auschwitz mit seinen feinfühligen Rezitationen beeindruckt hat. Die Schrecken der politischen Gegenwart blitzen nur kurz auf, als man erfährt, dass er mit der Reisegruppe im Konzentrationslager gebetet hat – drei Tage nach den Anschlägen vom 7. Oktober. Aber Krzaks Vortrag mit Gedichten vor allem von Wislawa Szymborska und Nationalikone Czeslaw Milosz verbreitet vor allem Hoffnung auf die Kraft der Poesie.
Keine „Todesfuge“
Von der Nobelpreisträgerin hört man zwar ein eindrückliches Werk über Hass, aber nicht das Gedicht „Der Terrorist, er sieht“. Eher viel Nachdenkliches. Etwa aus „Hand“ die Zeilen: „Siebenundzwanzig Knochen, fünf und dreissig Muskeln, etwa zweitausend Nervenzellen in jeder Spitze unserer fünf Finger. Das reicht vollkommen, um „Mein Kampf“ zu schreiben oder „Pu der Bär“. Auch die „Todesfuge“ des in der heutigen Ukraine geborenen Paul Celan bleibt außen vor. Stattdessen rezitiert Krzak – meist frei und in zwei Sprachen – dessen idyllisches „Drüben“. Als Beispiel, dass Adornos Diktum sich als falsch erwiesen habe, nach Auschwitz sei Poesie unmöglich. Die Texte und zwei auch in Konzentrationslagern gesungene Lieder auf Jiddisch und Russisch verdichten sich zur Botschaft, dass wir nicht aufhören dürfen, auf Menschen zuzugehen.
Am Ende ist es ein normaler Lyrik-Abend geworden. Deutlich besser besucht als bei den meisten Gedichtlesungen leider üblich, vom Hauptdarsteller besonders abwechslungsreich in Szene gesetzt. Abgesehen von Krzaks leisem Plädoyer für ein Festhalten am Humanismus zwischen den Zeilen der zitierten Werke nimmt man ein leichtes Neidgefühl mit. Auf den literaturinteressierten Teil Polens und sein regelrecht leidenschaftliches Verhältnis zu seinen Dichterinnen und Dichtern.
Enorme Bedeutung von Lyrik
Das ist historisch begründet. Polen wurde Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt und hörte für mehr als 120 Jahre auf, als unabhängiger Staat zu existieren. Sprache und Dichtkunst trugen wesentlich dazu bei, ein polnisches Selbstbewusstsein bei der Bevölkerung zu erhalten – emotional, intellektuell, politisch.
Diese Bedeutung von Lyrik hält sich bis heute. Man sieht es an den zahlreich erschienenen Muttersprachlerinnen im Publikum des Jüdischen Gemeindezentrums, die den Vortrag sichtlich bewegt verfolgen. Darunter Ewa Wojciechowska, Leiterin des Mannheimer Kulturamts, die den Abend hinterher im Gespräch mit dieser Redaktion als „mein Weihnachtsgeschenk“ bezeichnet. Dazu trägt die beeindruckende Sprachmelodik des Polnischen bei, mit der die deutschen Übersetzungen zwangsläufig nicht mithalten können. Zumal sich moderne polnische Poesie kaum von Versmaßen oder Reimschemata einschränken lässt. Sie verhandelt selbst abstrakte Themen lebensnah und postmodern zugleich. Alles ist möglich, war schon immer die Parole der Poesie. Hierzulande nutzt sie allenfalls noch Konstantin Wecker publikumswirksam als utopisches Vehikel. Vieles wird eher über Popsongs, Kabarett, Slam-Poetry oder Podcasts transportiert als mit Gedichten. Nicht, dass es seit den Hochzeiten von Benn, Enzensberger oder Fried keine Lyriker mehr gäbe. Ein breites Publikum erreichten in der jüngeren Vergangenheit allenfalls Ulla Hahn, Durs Grünbein, Sarah Kirsch, Elke Erb oder Marcel Beyer. Diskussionen, allerdings keine literarischen, lösten zuletzt nur die Gedichte von Till Lindemann aus – weil die darin formulierten Fantasien gut zu den Vorwürfen sexuellen Machtmissbrauchs gegen den Rammstein-Sänger passten.
Nur Grass und Gomringer diskutiert
Eine breite gesellschaftliche Debatte gab es in diesem Jahrhundert nur um zwei Gedichte: Eugen Gomringers „ciudad (avenidas)“, dass 2017 nach Misogynie-Vorwürfen von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin „gecancelt“ wurde. Und „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass, in dem der Nobelpreisträger dem Staat Israel den Besitz von Atomwaffen und kriegerische Absichten unterstellt. Seitdem wird er mancherorts als Antisemit gesehen. Es wäre wünschenswert, wenn Lyrik in dieser Republik auch ohne Skandalisierung verhandelt würde – ästhetisch, philosophisch oder gesellschaftspolitisch. Oder wenn sie helfen könnte, das schwächer werdende Licht des Humanismus weiter leuchten zu lassen. Wie der Abend mit Pawel Krzak.
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