Ludwigshafen. Alle wollen nach Ludwigshafen. Eine kuriose Behauptung - besonders für einen Mannheimer. Doch der Stau auf den Restrheinbrücken sowie das bereits eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn rot aufleuchtende „Besetzt“-Zeichen an den Parkhauseinfahrten zum Pfalzbau spricht ebenso Bände wie ein an zwei Abenden bis auf den letzten Platz ausverkauftes Theater im Pfalzbau. Der Grund? Das Weltniveau schaut (einmal mehr) linksrheinisch vorbei: Nederlands Dans Theater - in der Abkürzung „NDT“ als Markenzeichen fast noch bekannter - heißt die legendäre Compagnie, die hier die Massen anzieht, weil sie ihre magnetische Wirkung sonst eher im heimischen Den Haag oder auf den großen internationalen Bühnen, in der weiteren Region allenfalls im Festspielhaus Baden-Baden, entfaltet.
Noch dazu war in Ludwigshafen das NDT I, also deren Champions-League-Hauptcompagnie, zu Gast und hatte nicht nur eine Choreographie des skandalgebeutelten Hundekot-Schmierers Marco Goecke, sondern auch zwei Deutsche Erstaufführungen im Reisegepäck.
Fangen wir, wie der dreiteilige Abend auch, mit ihm an. Das Beste kommt zum Schluss, heißt es. Das gilt in diesem Falle nicht. „I love you, ghosts“ heißt Goeckes elfte Kreation für das NDT, die zur Eröffnung einer neuen Spielstätte (und Aufgabe der alten) entstand. Fünf Tänzer und vier Tänzerinnen gehen auf die Suche nach den alten Hausgeistern. In schwarzer (Trauer-)Spitze vibriert, zittert und zuckt Luca Tessarini zu Harry Belafontes „Try To Remember“ und führt sich damit als dunkler Erinnerungsgeist ein. Mit einsetzenden Streicherklängen gesellen sich Kolleginnen und Kollegen dazu. Die flinke Kleinteiligkeit minimalistischer wie hochpräziser Fußschläge setzen sie ebenso fort wie seine blitzschnell flatternden Arm- und Handbewegungen.
Geister der Erinnerung
Es entsteht ein suggestiver Sog und eine eigenwillige, ja einzigartige Ästhetik, die einem den Atem stocken lässt. Immer wieder wird die zu Klängen von Mieczyslaw Weinberg und Alberto Ginastra nostalgisch anschwellende Erinnerungskultur dramaturgisch mit Humor gebrochen. Ein kess gerufenes Geister-„Buh“, ein frivol-proletischer Griff in den Schritt bricht die ästhetische Hochleistung. Und „brechen“ ist buchstäblich zu verstehen: Wenn es zu schön wird, finden zeitgenössische Choreographen das meist, nun ja, „zum Kotzen“, weshalb dies die Tanzenden nun auch lautstark tun.
Die Spei- und Würggeräusche sind von De Keersmaeker bis Florentina Holzinger gerade sehr en vogue, eine Mode, über die man sich ärgern, die man aber auch nur schmunzelnd als vergänglich einordnen kann. Viel entscheidender ist, dass Goecke das veritable Kunststück gelingt, seine furios zappelnde Unruheästhetik mit im Raum greifbarer Emotion zu einer großen atmosphärischen und poetischen Ruhe zu verbinden.
Dass daran auch Belafontes finales Lied „Danny Boy“ und vor allem eine starke Ausnahmecompagnie Anteil haben, schmälert die choreographische Meisterleistung nicht. Sie darf exemplarisch auch als hohe Schule ästhetische Erziehungsarbeit gelten. Sie erinnert uns daran, dass Marco Goecke weitaus mehr ist als „der mit der Dackelkot-Attacke“, nämlich immer noch einer der besten deutschen Choreographen der Gegenwart. Um im vulgären Bild der choreographischen Attitüde zu schließen: „I love you, ghosts“ ist einfach „zum Kotzen schön“. Vielleicht wird der Geist der Erinnerung auch hier allmählich gnädiger ...
Bewegte Skulptur in Dreiecksformation
Von der Brillanz des NDT zeugt auch „15“, für ebensoviele tanzende Körper - als deutsche Erstaufführung des Chinesen Tao Ye eine echte Sensation. Schwarz ist die Bühne auch hier, ebenso die Röcke des Ensembles (Duan Ni). Schläge setzt nicht nur die Musik von Xiao He, sondern setzen auch die Tanzenden auf ihre blanken Oberkörper - „Schuhplattler“ inbegriffen. Tao Ye schafft nicht weniger als eine bewegte Skulptur in Dreiecksformation, die Zenon Zubyk mit sicheren Impulsen anführt. Erstaunlich ist hier alles: Geschwindigkeit und Kleinteiligkeit der Bewegungen, die Verarbeitung neoklassischen Materials, Synchronie, Koordination und Genauigkeit der Formation.
„Circular Movement System“ nennt er seine künstlerische Vorgehensweise in Anlehnung an physikalische und asiatische Denkmodelle, die er hier in ein tanzendes, sich durchmischendes und über die Bühne wanderndes Dreieck übersetzt, das Skulptur und Mantra in einem ist. Energetisch befeuert wird es durch eine Art meditativ-rituellen Sufi-Tanz der Derwische. Es wechselt seine choreographische Allegorie zu Schwarmverhalten und Gruppendrift vom Stand zum Boden in die freie Bewegung - atemberaubend.
Am Schluss des zweistündigen Abends steht „Jakie“, das auch „Dancer in the Dark“ heißen könnte. Stockfinster ist es anfangs, erst langsam bringen Sharon Eyal und Gai Behar Licht in die flatterhafte Demi-Point-Studie zwischen Klassik und Club-Rave, die gleichwohl mit fulminanter Ensembleleistung glänzt. Auf einen in jeder Hinsicht exzellenten Abend folgt nichts als Jubel. Bravo!
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-jubel-fuer-nederlands-dans-theater-im-ausverkauften-ludwigshafener-pfalzbau-_arid,2141127.html