Heidelberg. Im Kulturkalender der Festivalregion ist er ohnehin eine feste Größe, doch auch bundesweit und selbst international hat der Heidelberger Stückemarkt an Bedeutung zugelegt, was seine Ausrichter und Gestalter im Jubeljahr seines 40. Bestehens auch sichtlich zufrieden wirken lässt. Das Team um Intendant Holger Schultze, Chefdramaturg Jürgen Popig und Produktionsleiterin Lisa Koenen ist eingespielt, das Procedere der Pressekonferenz sitzt, routiniert navigiert man durch die Komplexität aus Preisen, Programmschienen und Veranstaltungsreihen, die nun hier ausgebreitet werden sollen, schließlich beginnt heute bereits der Vorverkauf.
Zum Geburtstag spiegelt der Stückemarkt die Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik und legt, man muss sagen bundestrendgemäß, den Fokus auf unterschiedliche Konzepte von Identität sowie auf Körperbilder und Rollenzuschreibungen. „Die Stücke werden relevanter“, sagt Holger Schultze. Und Jürgen Popig ergänzt: „auch in gesellschaftlichen Fragen. Wie empfinde ich mich selbst? Wie setze ich mich mit anderen in Bezug? Was ist das Bild meiner selbst für mich - und für andere?“ Mancher mag darin durchaus auch einen Widerspruch sehen. Ob die selektive Jahrestextleistung nun große Relevanz oder auktoriale Nabelschau ist, wird erst erfahren, wer hingeht.
Börse für Gegenwartsdramatik
Auftakt ist am 28. April mit Ivana Sokolas „Pirsch“, das 2022 den „Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts“ gewann. Dass 2023 nun nicht traditionsgemäß mit der Uraufführung, sondern einer Zweitaufführung des Textes eröffnet wird, wertet Jürgen Popig durchaus programmatisch: Ist der Impuls, bereits uraufgeführten Stücken eine weitere Chance zu geben, in Form des „Nachspielpreises“ doch längst ausdrücklicher Auftrag seines Festivals und dessen Autorenförderung.
Diese manifestiert sich in Lesungen der sechs nominierten Stücke, etwa dem Klima-Stück „draußen ist wetter (oder die erfindung der straßenverkehrsordnung)“ (29.4.) von Caspar-Maria Russo, der derzeit - so viel Mannheimer Lesen.Hören-Werbung muss schon sein - über Roger Willemsen und Robert Musil promoviert. Beginnen wir mit dem Autorenwettbewerb: Aus 72 Einreichungen hat die Dramaturgie sechs Stücke ausgewählt die für den von der Manfred Lautenschläger-Stiftung mit 10 000 Euro dotierten Hauptpreis antreten.
Feste Säule des szenischen Geschehens ist das Gastspielprogramm. Auf Deutsch und Ukrainisch ist dabei etwa „Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern“ vom Schauspiel Köln zu sehen. Von sexueller Konditionierung erzählt Olivia Axel Scheuchers und Nicki Romeo Reimanns „Fugue four; responde“ vom derzeit höchst angesagten Volkstheater Wien. Das Schauspielhaus Bochum ist mit prallem Bildertheater der Performance „Baroque“ von Lies Pauwels zu Gast - und trägt, gleich Atlas, die ganze Welt auf seinen Schultern, während das Schauspiel Hannover mit Kevin Rittbergers „Wir sind nach dem Sturm“ die Folgen der Erfindung des Drahtseils erforscht. Weiter geht es am 1. Mai mit Karin Beiers hochgelobtem Interview-Stück „Aus dem Leben“ - basierend auf Gesprächen mit Sterbebegleitern, Suizidwilligen und ihren Angehörigen vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
Mit Lisa Wentz’ Uraufführung „Adern“ gastiert am 3. Mai sogar das Wiener Burgtheater unter der Regie von David Bösch am Neckar. In „Wie alles endet“ von Manuela Infante (Theater Basel) warten drei Frauen auf den Weltuntergang. Doch enden wird der Gastspielreigen erst mit Alexander Stutz’ „Das Augenlid ist ein Muskel“ über sexuellen Missbrauch vom Deutschen Theater Berlin in der Regie von Jorinde Dröse.
Virtuelle Realität auf der Bühne
Natürlich ist dann noch lange nicht Schluss mit lustig (und tragisch). Heidelbergs Jugendtheater ist ebenso aktiv wie der Netzmarkt, der den Schwerpunkt digitale und hybride Theaterformen hat und etwa Marlen Haushofers Erzählung „Die Wand“ (noch vor Bayreuths neuem „Parsifal“) als virtuelles Theatererlebnis mit Spezialbrillen auf die Bühne und ins Internet bringt. Um den Nachspielpreis - verbunden mit einer Gastspieleinladung zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin - wetteifern die Theater Dortmund, Frankfurt und Leipzig. Dazu kommen ins Festspiel-Menü neben Kooperationen mit SWR2 und Online-Theaterportal „Nachtkritik“ noch die Zutaten Hörspiel, Diskussion und Party. Prost Mahlzeit - da wird einem der finale Schwedenhappen des Gastlandes - bestehend aus drei Gastspielen und drei Stückeinreichungen - sicher guttun.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-heidelberg-setzt-mit-dem-stueckemarkt-auf-gegenwartsdramatik-_arid,2057058.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg.html