Mannheim. Der Araber, den Meursault am Strand erschießt, hat keinen Namen. Damit weist Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ eine Leerstelle auf, wie der künstlerische Leiter des Festivals Mannheimer Sommer am Nationaltheater, Jan Dvorák, meint. Diese Lücke soll nun das Haz’art Trio schließen, das die nordafrikanische Musiktradition aus westlicher Perspektive adaptiert. Und zwar auf der Studiobühne des Werkhause, wo vor wenigen Tagen die Kammeroper der argentinischen Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio über den existenzialistischen Klassiker Premiere hatte.
Wer die Opernaufführung besucht hat, kann die darin vorkommenden ikonischen Szenen vor dem inneren Auge an sich vorüberziehen lassen, während das Haz’art Trio einen arabisch-europäischen Soundtrack entwirft, der den postkolonialen Aspekt von Camus’ Roman aufnimmt. Dessen Handlung ist in der algerischen Hauptstadt Algier angesiedelt. Die belasteten französisch-algerischen Beziehungen bilden den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem „Der Fremde“ spielt.
Mögen die Wunden bis heute auch nicht verheilt sein, so nutzt das Haz’art Trio mit seinem tunesischen Oud-Spieler Fadhel Boubaker die Kunst als verbindendes Element. Dabei lässt sich nicht immer feststellen, aus welchem kulturell geprägten Fundus die Impulse stammen, die in episch wirkenden Anpassungs- und Verarbeitungsprozessen weitergesponnen werden. Mal scheint es eine orientalisch anmutende Melodie mit charakteristischen Verzierungen zu sein, die Boubaker auf seiner arabischen Laute zupft und auf die seine Triopartner reagieren, mal ist es die Oud, die sich einen Weg durch ein Soundkonzept bahnt, das aus Elementen des modernen Jazz okzidentaler Provenienz besteht.
Zu Beginn des Konzerts dringt elektronisches Gebrodel von der Bühne, über das sich erst nach und nach ein rhythmisches Muster legt. Klangverfremdungen und -verzerrungen steuert Schlagzeuger Dominik Fürstberger an seinem Drumset, das er mit viel Fantasie und Einfühlungsvermögen für die folkloristischen und jazzigen Stilimpulse aus west-östlichen Traditionen bedient. Das Konzept mit Titeln, die sich teilweise explizit auf Camus und seinen Roman beziehen, wirkt dennoch nicht beliebig, sondern weist subtile Entwicklungen auf, die Motive auf organische Weise miteinander vernetzen. Mal klingt die Musik nach arabischem Kammerjazz, mal dominiert eine mit rockigen Elementen ausgestattete Jazzkulisse.
Fadhel Boubaker und Dominik Fürstberger haben die Stücke geschrieben, die vom Haz’art Trio unaufdringlich, mit feinem Gespür für rhythmische und harmonische Details und wie von lockerer Hand arrangiert werden. Gelegentlich setzt sich melancholische Camus-Stimmung durch, doch der Titel „Infinite Chase“ hat etwas von „Immer weiter so“ und verdankt seinen ekstatischen Charakter auch dem perpetuierenden Bassmotiv, das Jonathan Sell aus seinen Saiten - mal am E-, mal am Kontrabass - zupft.
Ein Konzert, das sich auf reizvolle Art und Weise mit jener luziden Opernregie verknüpft, die den „Fremden“ in seiner als absurd empfundenen Lebenswelt mit großer Behutsamkeit aufspürt. Arabische Idiomatik mag die Leerstelle in Verbindung mit dem Mord an einem Namenlosen zwar nicht kompensieren, zumal sie sich in auffallend höflicher und diskreter Weise des Zugriffs durch eine moderne Jazzästhetik empfiehlt, aber immerhin ein wenig wahrnehmbarer machen.
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