NTM

"Der Fremde" im Studio Werkhaus: Ein sinnliches Drama der Klänge

Ergebnis eines Wettbewerbs am Nationaltheater Mannheim: In Cecilia Arditto Delsoglios Adaption von Albert Camus’ „Der Fremde“, die in der Studiobühne uraufgeführt wurde, sind Text, Musik und Darstellung eng miteinander verbunden

Von 
Uwe Rauschelbach
Lesedauer: 
Selbst das Gläserklirren bei Tisch wird in der Aufführung von „Der Fremde“ zum rhythmischen Element. © Maximilian Borchardt

Mannheim. Ein Mann begeht einen Mord. Doch am Ende wird er schuldig gesprochen, weil ihn der Tod wie das Leben gleichgültig und teilnahmslos sein lassen. Tatsächlich kann man Albert Camus’ Roman „Der Fremde“ aus unterschiedlichen Perspektiven lesen: existenzialistisch, sozialkritisch, psychoanalytisch oder als Justizdrama.

In der Kammeroper von Cecilia Arditto Delsoglio, die in der Studiobühne des Mannheimer Nationaltheaters uraufgeführt wurde, werden die unterschiedlichen Facetten dieses verstörenden Romans assoziativ beleuchtet, ohne sie interpretatorisch zu vereinnahmen.

Kammeroper Ergebnis eines Wettbewerbs am Nationaltheater Mannheim

Delsoglios Komposition ist das Ergebnis eines 2020 ausgerichteten Wettbewerbs am Nationaltheater, das sich als intermediales Produkt charakterisieren lässt. Text, Musik und Darstellung gehen in der Regie von Annette Müller eine unauflösliche Verbindung ein.

Dialoge und Handlungen, aber auch nicht dargestellte Erzählstränge werden in deutscher Sprache auf den Bühnenhintergrund projiziert. Gesangsquartett wie Instrumentalensemble agieren in einem Milieu, das literarisch kontextualisiert ist, dessen mediale Grenzen im Zuge der musikalischen und darstellerischen Umsetzung aber durchlässig sind.

"Der Fremde" im Studio Werkhaus

  • Die Kammeroper „Der Fremde“ der argentinischen Komponistin Cecilia Arditto Delsoglio nach Originaltexten aus „L’Étranger“ von Albert Camus ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den das Nationaltheater Mannheim 2020 ausgeschrieben hat.
  • Musikalische LeitungPierre-Alain Monot; Regie und BühneAnnette Müller; Kostüme: Oliver Kostecka; DramaturgieDaniel Joshua BuscheJan Dvorák.
  • Gesangsensemble bei der Uraufführung: Amelia Scicolone (Sopran), Slavica Boic (Mezzo), Joachim Goltz (Bariton), Patrick Zielke (Bass).
  • Orchester: Kammerensemble des Nationaltheaters Mannheim.
  • Weitere Aufführungen: Mittwoch, 3. Juli; Samstag, 6. Juli; Samstag, 13. Juli, jeweils 20 Uhr (Kurzeinführung jeweils um 19.40 Uhr). Kartentelefon: 0621/1 68 01 50. urs

So werden das Gläserklirren bei Tisch oder die Gabel, die beim Briefschreiben einen Stift simuliert, zu rhythmischen Elementen. Das Trinken eines Milchkaffees, bei dem ein Metallstab in einer Tasse rührt, wird zum musikästhetischen Ereignis. Auch die klassisch besetzte Instrumentalbegleitung mit Streichern, Bläsern und Perkussionen ist eng mit dem Geschehen verzahnt: atmosphärisch, gestisch und teilweise kommentierend. Inklusive Geräuschentwicklung durch das Schütteln von Wasserflaschen.

Vorstellung im Werkhaus des Nationaltheaters

Wenn die Besucherinnen und Besucher die Studiobühne im Werkhaus des Nationaltheaters betreten, werden sie unmittelbar Beteiligte einer Aufbahrungsszene, die bereits begonnen hat. Camus’ Protagonist Meursault hat seine verstorbene Mutter zu betrauern. Rauchend steht er am Sarg und blickt mit leeren Augen in den Saal. Der Tod der Mutter lässt ihn kalt, geht ihn nichts an.

Das jenseitig wirkende Piano der Streicher evoziert mit scharfer Chromatik Trauerstimmung, doch die irrlichternde Stimme von Bariton Joachim Goltz, der diesen Meursault mit einer bedrückenden Aura aus Agonie und Abwesenheit versieht, scheint vergeblich nach einem Gefühlsauslöser zu suchen. Beim Trauerzug werden Mitglieder des Kammerensembles selbst zu Akteuren und laufen mit. Trompeter Alexander Schuhwerk bekommt als Darsteller des Arabers, der von Meursault erschossen wird, eine zusätzliche Rolle. Sein Leben versiegt mit dem Schalltrichter im Wassereimer.

Klangsprache ebenso sensibel wie ausdrucksstark

Cecilia Arditto Delsoglio hat eine ungemein sensible, zarte und ebenso diskrete wie ausdrucksstarke Klangsprache gefunden, die diesen Stoff in seiner atmosphärischen Dichte, seinen ergebnislos suchenden Bewegungen und seinen grotesken Wendungen adaptiert. Geräusche, Melodiefragmente, atonale Harmoniegeflechte sind als klanglich verdichtete Substanz der literarischen Vorlage wahrnehmbar. Auch die rezitativischen Solo- und polyphonalen Satzgesänge verleihen den Romanrollen eine verstärkende Resonanz.

Mehr zum Thema

Nationaltheater

Mannheimer Goetheplatz soll zum Quartiersplatz für die Oststadt werden

Veröffentlicht
Von
Sylvia Osthues
Mehr erfahren
Nationaltheater

Mannheimer Ersatz-Oper soll mit zwei Jahren Verspätung im Herbst eröffnen - ein Baustellenbesuch

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Mannheimer Sommer

Don Giovanni in Schwetzingen: ein Hauch Begeisterung wallt auf

Veröffentlicht
Von
Stefan M. Dettlinger
Mehr erfahren

Darstellerisch wie sängerisch gibt Amelia Scicolone (Sopran), die sowohl als Tote dem Sarg entsteigt und damit die Mutter Meursaults präsent werden lässt als auch Meursaults irritiert-laszive Freundin Marie figuriert, eine an subtilen Andeutungen reiche Vorstellung. Patrick Zielke (Bass) ist in mehreren Partien, vom trotteligen Hundebesitzer bis zum gottähnlichen Richter, als Idealbesetzung zu erleben. In einem Duo mit Mezzo Slavica Boic und Amelia Scicolone wird das klassisch-romantische Fach zitiert, um seine Fremdartigkeit in diesem Kontext zu erweisen.

Die Bühne, die von der einfühlsamen Lichtregie (Ronny Bergmann) in wechselnde, dem Geschehen und der Stimmung adäquate Farben getaucht wird, lässt sich mit sparsamen Mitteln in eine Tischszene, einen Aufenthalt am Strand oder einen Gerichtssaal verwandeln. Man ist als Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute gebannt und gefesselt, ohne sich auch nur im mindesten überfordert oder überwältigt zu fühlen.

Am Ende ist es die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“, die Meursault kurz vor seinem Tod spüren lässt, wofür es sich zu leben lohnt. Cecilia Arditto Delsoglios Oper vermittelt uns auf sehr sinnliche Weise eine Ahnung davon.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke