Junges Nationaltheater

Fetziger Kafka für Jugendliche im Mannheimer Schnawwl

Franz Kafkas Roman "Der Verschollene" ist Fragment geblieben. Im Schnawwl hat Lara Kaiser damit erfolgreich ihr Regiedebüt bestritten, sie legt die 90 Schauspielminuten als launiges Gesellschaftsspiel an...

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Glänzend in kafkaeskem Lila (v.l.): Carmen Yasemin Ipek, Katharina Breier und Rebecca Mauch. © Maximilian Borchardt

Mannheim. „Alle Spieler auf ihre Position!“ Gefühlte tausend Male erklingt die Computerstimme beim Einlass ins Schnawwl, wo das Junge Nationaltheater seine Hauptspielstätte hat. Während sich weiter unten die Sportfreunde Stiller warm spielen, steigt hier im Turm der Alten Feuerwache für Jugendliche ab 15 Jahren eine Premiere, die ebenfalls und buchstäblich als Spiel angelegt ist: optisch fantasie- und kunstvoll als Brettspiel von Bühnenbildnerin Katri Saloniemi, szenisch von Regiedebütantin Lara Kaiser, die frisch von der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (woher auch sonst?), nach Mannheim kam.

Verhandelt wird in diesem quirligen Planspiel von drei höchst aufgeweckten Spielerinnen (Katharina Breier, Carmen Yasemin Ipek, und Rebecca Mauch) nichts Geringeres als hohe Literatur, Franz Kafkas „Der Verschollene“, ein frühes Romanfragment, das (leider immer noch) unter Max Brods 1927 vergebenem Titel „Amerika“ bekannter ist.

Unterhaltsamer als das Original

Als Schullektüre und somit auch für die Bühne des Jugendtheaters zu eignen scheint sich der Text vor allem deshalb, weil er unter Kafkas kryptisch verdräuten Stoffen als der heiterste und hoffnungsfrohste gilt, wenngleich alles später von ihm Kommende - etwa „Der Prozess“, „Das Schloss“ oder „In der Strafkolonie“ - darin bereits augenfällig angelegt ist. Als Entwicklungsgeschichte eines 16-Jährigen, der von den Eltern ins fremde und ihn in vielerlei Hinsicht überfordernde New York geschickt wird und dort spaßhafte und doch existenzielle Abenteuer zu bestehen hat, taugt der Stoff alle Mal. Lara Kaiser gelingt es, ihn unterhaltsamer zu machen als das Original, ihre zwingend massiv heruntergestrichene Textfassung schnurrt mit Hilfe gut aufgelegter Darstellerinnen, und jugendgemäßer PC-Games, es klingelt und blinkt, Schnelldurchläufe und Soundcard-Hänger inklusive.

Der Spiel-Gedanke geht aber noch weiter, zu „Exit Games“ in sogenannten „Escape Rooms“, deren Prinzip die Produktion auf die Lebenssituation des Protagonisten Karl Roßmann überträgt: Auch er begibt sich in eine Situation der er gleich wieder entkommen möchte. Damit das gelingt, müssen verschiedene Aufgaben gelöst werden. Das, wer wüsste es nicht, gelingt nicht immer im Leben, das hier sehr spielerischen Charakter erhält. Weitermachen muss man trotzdem.

Kapitalismus und Theater

Auch wenn unser Karl von einer misslichen Lage in die nächste gerät, folgen wir ihm gern auf diesem windungsreichen Weg voller kurioser Begegnungen und Gestalten. Dass Kafka das Werk selbst als „Dickens-Nachahmung“ bezeichnet, verwundert daher nicht. Dass wir ihm, dem hier figürlich Dreigeteilten, in Mannheim gerne folgen, verdanken wir aber auch der bildstarken, symbolistisch grundierten Ausstattung Katri Saloniemis sowie den wahrlich grandiosen Kostümen von Clara Fee Stürzl, die ein ganzes Grandhotel zum Plüschmantel (und umgekehrt) werden lässt und die dicke Sängerin Brunelda mittels Rüschengardinen zur gigantischen Bühnenskulptur verzaubert. Das lässt der Fantasie Raum und wirbt farbenfroh für die dampfende und schnaubende Wirklichkeitsbewältigungsmaschine namens Theater. In utopistischer Eintracht wird sie (textgemäß) zum „Naturtheater von Oklahoma“, einem Zufluchtsort des allgemeinen Künstlertums vor dem „System der Abhängigkeiten“, als das Kafka den Kapitalismus bezeichnete.

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Die frohe dramaturgische Zuversicht (Annalena Küspert) der Mannheimer (Auf-)Fassung, ist von der Kafka-Forschung eigentlich längst überholt. Zahlreiche Hinweise belegen, dass Kafkas Text schwärzer werden, sein Protagonist scheitern und sterben sollte. Auch dass Karl weg nach Amerika geschickt wurde, weil er „das Dienstmädchen schwängerte“ ist eigentlich nur ein alter Topos und hier die halbe Wahrheit, eine weibliche Vergewaltigung des Teenagers die andere. Aber so viel politische Korrektheit ist dann vielleicht doch für Jugendliche und selbst für das NTM zuviel des Guten - und zum Glück bleibt der Text ja Fragment.

Ungerührt davon: ein starkes Regie-Debüt., das zurecht mit frenetischem Applaus gefeiert wurde.

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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