Heidelberg. Machen wir es. Tun wir ihr und ihnen den Gefallen, alles zuzugeben. Ja, fast alles, was Ayse Güvendiren in ihrem Recherchestück „R-Faktor. Das Unfassbare“ für die Münchner Kammerspiele aus Kunstschaffendenschicksalen zusammengetragen hat, hat der Rezensent auch schon gedacht oder gar gesagt. Da in ihrem Stück Kritiken mit relativierenden Einschätzungen ohnehin als weiterer Beleg für Rassismus (eben „R-Faktor“) gelesen und zitiert werden, ist man frei von aller Widerspruchslust. Die Deutungshoheit, das kann man akzeptieren, liegt bei den Betroffenen, Schnauze also - und Applaus!
Nicht weiß - oder besser kaukasisch gelesene Menschen mit jeglichen Migrationshintergründen haben es schwer im Kulturbetrieb. Punkt. Und zwar vom Vorsprechen an der Schauspielschule bis ins Engagement. Kollegen, Intendanten, Dramaturgen - alles zumindest unsensible Kolonialisten mit Deutungshoheit oder eben Rassisten.
Wer es nicht glaubt, dem sei der im Stile einer Hans-Klok-Mystery-Show (Bühne: Theresa Scheitzenhammer) angelegte 80-Minüter empfohlen, weniger wegen der unendlich langen wie launig-sarkastischen Aufzählung jedweder „-ismen“, mehr wegen der brillanten monologischen Schauspielleistung von Safak Sengül. Wie ihre Regisseurin legt sie ein gutes Gefühl für Timing und Rhythmus an den Tag, auch beim Singen der subjektiven Betroffenheitswahrheiten. Benutzt werden dafür (freilich, weil all überall hip and hot as shit) Popmelodien der 1980er Jahre.
Pop-Hymnen als Vehikel
Whitney Houston hätte sich gefreut, mehrfach geehrt zu werden. Ihre immerwährende Sopranschnulze „I Will Always Love You“ (der Rezensent hörte sie allein auf baden-württembergischen Bühnen innerhalb 24 Stunden in vier unterschiedlichen Produktionen) erklingt an den Münchner Kammerspielen als Klangfolie zur Herstellung politischer Korrektheit.
Wenig später hört man den Song dann im Marguerre-Saal des Theaters als kollektiv falsettierte Liebeserklärung, des großen Bochumer Dante-Abends „Das neue Leben“, der in acht Tagen auch beim Berliner Theatertreffen zu sehen sein wird.
Ein Wiedersehen mit dem sensationell-anrührenden Damian Rebgetz gibt es da, der 2014 bei „Theater der Welt“ in Mannheim als australischer Glamour-Cowboy zu erleben war. Sein von Regisseur Christopher Rüping zusammengesuchtes Kollegium ist nicht minder beeindruckend: William Cooper, Anna Drexler, Viviane De Muynck, Anne Rietmeijer. Der Abend „frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears“ kreist 130 pausenlose Minuten mal launig, mal gefühlvoll um die Liebe, das Vergehen und alles Unaussprechliche, das der mittelalterliche Dichter und Denker Dante mit Sonetten und der „Göttlichen Komödie“ ebenso hitzig-quälend umkreist, wie der nervige Pendelscheinwerfer Bernd Felders die Bühne von Peter Baur. Das hat Poesie und Witz, auch wenn der Spagat zwischen Tiefgründigkeit und leichter Muse, zwischen hochliterarischer Minne zu Beatrice und trendiger Nummernrevue manchmal wehtut.
Viel Applaus gibt es für das, was Dante offensichtlich nicht so schön sagen konnte wie The Blaze mit „Places“ oder Danger Dan mit seiner „Guten Nachricht“. In Zeiten, in denen für Kunstschaffende U50 keinerlei andere Transmitter-Folie mehr denkbar ist als Pop-Musik, hier ein Tipp für alle, die sich mit dem Gedanken tragen, Regie zu studieren: Schon mal an eine Musicalschule gedacht?
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