„Jeff Wall. Appearance“ - Der kanadische Fotokünstler begibt sich mit 30 Werken auf die Suche nach dem Wesen der Dinge – und erfindet so seine Wahrheit

Es könnte auch ganz anders gewesen sein

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Der Meister und sein Werk: Jeff Wall spricht über das im Zentrum der Schau stehende „Search Of Premises“ (Hausdurchsuchung), auf dem Beamte nach Indizien suchen – wonach genau, bleibt unklar. © Rinderspacher

Es könnte auch ganz anders gewesen sein. Spuren auf dem beigen Teppichboden deuten darauf hin, dass hier ein blutender Körper entsorgt wurde. Irgendjemand hat irgendetwas gesehen, hat die Polizei gerufen. Kommissare und Kriminaltechniker sind gekommen, haben zuerst das Haus geräumt und sich dann an die Spurensicherung gemacht. Fingerabdrücke sind genommen, Geräte konfisziert und DNA-Partikel gesammelt worden. Nun werden Akten aus einem Pappkarton studiert, und um diesen Moment herum tummeln sich allerlei Details: Sneakers, Base-Cap, Gürtel, Hose, Socken, Aschenbecher und viel mehr. Mord? Tatort? Schnöde Wirklichkeit? Festgehalten in einem Schnappschuss? Willkommen bei Jeff Wall und seinem riesigen Werk „Search Of Premises“, zu deutsch: Hausdurchsuchung.

Aber: Es könnte auch ganz anders gewesen sein. Und dieser Satz ist auf (fast) jedes großformatige Werk der umfangreichen, spektakulären und gelungen inszenierten Ausstellung „Jeff Wall. Appearance“ zur Wiedereröffnung der Kunsthalle anwendbar. Mehr: Es macht den Reiz der meisten seiner akribisch inszenierten Bilder aus, dass sie mehrdeutig lesbar und fassbar sind und nie d i e e i n e Geschichte erzählen. Der 71-jährige Wall, der die Journalisten beim Pressetermin selbst durch die Räume im Erdgeschoss des Neubaus führte und zu jedem der 30 Bilder schier endlos erzählen könnte, ist ein Meister im „Legen falscher Fährten“, wie es Kurator Sebastian Baden ausdrückt. Es bleiben nicht nur Fragen übrig, sondern veritable Erzähllücken, die unsere Fantasie anregen: So wissen wir im besprochenen Bild nicht einmal, ob überhaupt eine Tat stattgefunden hat und die Teppichspuren nicht eine vollkommen andere Ursache haben.

Bild zeigt überfluteten Friedhof

Tatsächlich, sagt Wall, habe er keinen bekannten Ausgangspunkt, keine Methode, alles sei zufällig, doch er würde daraus etwas Unvermeidliches schaffen. So darf man in einem Wall-Foto durchaus die Ultima Ratio eines situativen Motivs verstehen, den kristallinen Kern einer Idee.

Das sehen wir auf dem mit allerlei Meerespflanzen gefüllten Grab auf „Der geflutete Friedhof“ (1998-2000) genauso wie in „Band und Masse“ (2011), in der sich ein Rocktrio vor sehr wenigen Menschen in einer großen Halle die Seelen aus dem Leib singt und spielt. Alles scheint zwingend genau so zu sein, und je länger wir uns in die Sprache des Bildes hineinbewegen, desto mehr Details untermauern die These: Jeff Wall malt mit erfundener Wirklichkeit.

Auch in seinem frühen Meisterwerk „Bild für Frauen“ (1979), mit dem er wohl am deutlichsten an die französische Malerei des späten 19. Jahrhunderts anknüpft. Es ist das klarste und strengste Exponat der Mannheimer Schau. Edouard Manets trist dreinblickendes Barmädchen aus „Bar in den Folies-Bergère“ (1882) mutiert zu einer Dame, die mit dem damals 33-jährigen Jeff Wall über einen großen Spiegel äußerst überraschte Blicke austauscht.

Inszenierte Fotografie – so heißt, was Wall so gut wie im Alleingang erfunden hat, und gemeint ist das minuziöse Nachstellen flüchtiger Szenen, wodurch den Werken der dokumantarische Charakter genommen und ein kinematographischer, also filmischer, hinzugefügt wird.

Wall ist ein leiser, entspannter Erzähler. Sein Ton ist – ähnlich wie bei US-Literat Don DeLillo – unaufgeregt bis geräuschlos. Dramatik oder Unheimliches wie in den Fotografie-Settings von Gregory Crewdson gibt es bei ihm nicht. Seine Bilder sind wie Filmstills, bei denen auch die Erinnerung an aufdringliche Klanglichkeit abgeschaltet wird. Meistens zeigen sie ernste, einsame oder vereinsamte Menschen, denen ein trauriger Kampf mit den Gegebenheiten der Welt anzusehen ist, wenn wir so wollen: den Menschen als in die Welt geworfenes Subjekt, das sich dort durchzuschlagen hat, selbst in den wenigen Werken mit Personengruppen wie „Der Geschichtenerzähler“.

Frühwerke, solche aus Walls mittlerer Schaffensphase (wozu auch die eindrucksvollen Schwarzweißbilder „Volunteer“, „Forest“ oder „Passerby“ zählen) sowie jüngste Arbeiten wie „Listener“ (2015), auf der ein Mann mutmaßlich misshandelt wird und Walls Aussage ins Politische geht, machen die Schau rund. Gelungen spielt sie auf dem Grat zwischen Schein und Sein, zwischen Erscheinung („Appearance“) und Wirklichkeit und spürt so dem Wesen der beseelten und unbeseelten Welt nach.

Und dass Walls Bilder vor Verweisen in die bildende Kunst, in Film, Literatur und Musik nur so strotzen, nimmt ihnen nicht die Zugänglichkeit. Wie jede gute Kunst sind seine „Tafelbilder“, ob in Leuchtkästen oder als normaler Druck, auf verschiedenen Ebenen zu betrachten – oberflächlich, mit Freude an Licht, Raum und perspektivischen Linien oder gar mit großer Kenntnis radiographisch. Immerhin: Dies könnte wirklich nicht anders und besser sein.

Öffnungszeiten der Schauen

  • Die Ausstellungen: „Erinnern. Aus der Geschichte einer Institution“ und „(Wieder-)Entdecken“ laufen von 2. Juni bis 2020. „Carl Kuntz“ und die große Sonderausstellung zu „Jeff Wall.Appearance“ gehen von 2. Juni bis 9. September 2018.
  • Die Öffnungszeiten: Di, Do-So und Feiertage 10-18 Uhr. Mi 10-20 Uhr, 1. Mittwoch im Monat bis 22 Uhr.
  • Die Eintrittspreise: Regulär 10 Euro, ermäßigt 8 Euro, Abendkarte 6 Euro, Familienkarte 16 Euro, Jahreskarte 30 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren frei. Beim sogenannten MVV Kunstabend an jedem ersten Mittwoch im Monat ist der Eintritt von 18-22 Uhr frei.
  • Info: 0621/293 6423 oder im Internet unter: www.kuma.art  
Video

Kunsthalle Mannheim eröffnet mit Jeff Wall

Veröffentlicht
Laufzeit
Mehr erfahren

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Thema : Kunsthalle Mannheim

  • Mannheim Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit": Katalog wird nachgedruckt

    In der nächsten Woche soll der Katalog der Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum“ in der Kunsthalle wieder lieferbar sein. Die Sonderschau war am 22. November 2024 gestartet und läuft noch bis 9. März

    Mehr erfahren
  • Neue Sachlichkeit Kuratorin Inge Herold: Realistische Strömungen gab es überall

    Kuratorin Inge Herold spricht im Interview über das Symposium zur Kunsthallenschau "100 Jahre Neue Sachlichkeit", der jetzt ein Symposium gewidmet war, das tiefere Einblicke in die umstrittene Kunstbewegung gewährt.

    Mehr erfahren
  • Neue Sachlichkeit Rekordbesuch bei Florian Illies in der Mannheimer Kunsthalle

    Der Berliner Autor Florian Illies lockte Massen in die Kunsthalle Mannheim. Sein Vortrag zu Distanz und Teilnahmslosigkeit in der Neuen Sachlichkeit sorgte für Diskussionen.

    Mehr erfahren

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen