Mannheim. Noch bis zum 9. März 2025 ist die Ausstellung „Neue Sachlichkeit - ein Jahrhundertjubiläum“ in der Kunsthalle Mannheim zu sehen. Zahlreiche Besucherinnen und Besucher ließen sich von den ausgestellten Werken der Künstlerinnen und Künstler mit beobachtendem, analytischen Blick auf ihre Zeit in den Bann ziehen. Doch Vorsicht! Diese Kunst war schon zu ihrer Entstehungszeit kontrovers diskutiert worden. In einem dreitägigen interdisziplinären Symposium wurden weitere Hintergründe offengelegt und das Gesamtkunstwerk „Neue Sachlichkeit“ rekonstruiert, das außer der Malerei auch die Musik, das Theater und die Literatur erfasst hatte. Wir sprachen mit Kuratorin Inge Herold über die neuen Erkenntnisse.
Frau Herold, 100 Jahre Neue Sachlichkeit, die herausragende Ausstellung 1925 in der Mannheimer Kunsthalle, die einer ganzen Malergeneration den Namen gab, jetzt das Symposion mit durchweg ausgebuchten Veranstaltungen, wie kommt das Interesse an dieser Kunst und dieser Zeit?
Inge Herold: Vielleicht weil es Ähnlichkeiten zwischen damals und heute gibt. Die Weimarer Republik bot mit ihrer Kultur und Gesellschaft viele Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten, andererseits gab es eine große gesellschaftliche Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise und die Folgewirkungen des verlorenen Krieges, was zur Radikalisierung der politischen Lager führte. Wir versuchen mit unserer Ausstellung und dem Begleitprogramm die kulturellen Auswirkungen dieser Stimmung in der Bildenden Kunst, der Literatur und der Musik sichtbar zu machen. Deshalb sind wir sehr froh darüber, dass es gelungen ist, mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst sowie mit der Universität Mannheim zu kooperieren.
Vor fast genau 30 Jahren, nämlich 1994, fand bereits eine Jubiläumsausstellung zur Neuen Sachlichkeit statt. Damals war Manfred Fath der Direktor der Kunsthalle und Hans-Jürgen Buderer der Ausstellungskurator. Wodurch unterscheidet sich Ihre Ausstellung heute von der damaligen?
Herold: Zunächst einmal ist zu sagen, dass heute die Recherchemöglichkeiten sehr viel vielfältiger sind als damals. Damals lieferten ausschließlich die Bibliotheken die Hintergrundinformationen. Heute, durch die Digitalisierung und das Internet, haben wir viel mehr Instrumente der Recherche und der globalen Koordination von wissenschaftlichen Netzwerken. Außerdem hat sich unser Blick für wesentliche Details geschärft. So zum Beispiel das Thema „Malerinnen“, die in der Ausstellung von 1994, im Gegensatz zu der von 1925, wo überhaupt keine Malerinnen vertreten waren, schon eine Rolle spielten. Heute aber einen wesentlich breiteren Anteil in der Präsentation einnehmen.
Neben den bekannten Namen aus dem Umfeld der Neuen Sachlichkeit wie Otto Dix, George Grosz, Christian Schad, Rudolf Schlichter und Alexander Kanoldt, gibt es auch Werke aus der Szene außerhalb Deutschlands, wie zum Beispiel der britischen Malerin Meredith Frampton oder von Pablo Picasso. Das ist doch keine Neue Sachlichkeit, oder?
Herold: Wir wollen durch diese Ergänzungen zeigen, und das machte auch der Vortrag der Chemnitzer Kunsthistorikerin Anja Richter deutlich, dass es in ganz Europa realistische Kunstströmungen gab, aber die Malerei der Neuen Sachlichkeit innerhalb dieser realistischen Bestrebungen sich schon durch spezifische Merkmale auszeichnete.
Welche wären das?
Herold: Das war selbst für Hartlaub schwer zu fassen, und er unterteilte auch schon bei der Ausstellung in einen rechten und einen linken Flügel innerhalb der Neuen Sachlichkeit. Der rechte führte dann, wie bei Georg Schrimpf, zu einer Art beschaulicher Sachlichkeit, beim linken Flügel überwiegt die Gesellschaftskritik, der Verismus. Die Unsicherheit bei dem Begriff wird ebenfalls sichtbar, wenn man die Künstlerkataloge der Folgeausstellung sieht, die in Dresden und an anderen Orten stattfanden. Da tauchen andere Namen auf als die, die in Mannheim dabei waren. Auch Maler, die lange Zeit in Vergessenheit geraten waren und im neusachlichen Stil malten, wie der Osnabrücker Felix Nussbaum, über den unser Referent Nathan Sznaider aus Tel-Aviv sprach, ergänzt das Bild der Kunst dieser Generation. Nussbaum, der aus einer jüdischen Familie stammte und in Auschwitz ermordet wurde, stellte in seinen Werken die Verfolgung und den Rassismus, den er in brutalster Weise erfuhr, sehr autobiografisch dar.
Wie gingen die Künstler mit der Zuschreibung ihrer Werke zur Neuen Sachlichkeit um?
Herold: Auch das ist eine Frage, die man heute aufgrund der bereits erwähnten Digitalisierung viel fundierter beantworten kann als 1994. So erwähnte die Direktorin des Busch-Reisinger Museums in Boston, Lynette Roth, bei ihrem Vortrag im Rahmen des Symposiums Aussagen der Hannoveraner Malerin Gerta Overbeck und des Kölner Malers Franz Wilhelm Seiwert über die Unschärfe des Begriffs „Neue Sachlichkeit“.
Hatte diese Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Kunst dieser Künstler?
Herold: Das können Sie in der aktuellen Ausstellung sehr gut nachvollziehen. Denn Sie sehen ja, dass gerade das Porträt der Neuen Sachlichkeit in den 1920er Jahren Konjunktur hatte und die Maler wie Dix, Schlichter und Kanoldt auch als Porträtisten der wirtschaftlich erfolgreichen Oberschicht große Erfolge hatten. Diese Erfolge setzten sich für manche dieser Maler auch nach 1933 fort, denn der Stil der Neuen Sachlichkeit war unter Umständen mit der Kunstvorstellung der Nationalsozialisten durchaus kompatibel, wie Sie an einigen Karrieren und einigen hier ausgestellten Werken, wie zum Beispiel bei dem Bild „Bauernfamilie“, das Adolf Wissel 1938 gemalt hat, recht gut ablesen können.
Die Referentinnen und Referenten des Symposiums
- Anja Richter, Leiterin des Museums Gunzenhausen in Chemnitz: Studium der Kunstgeschichte, Afrikanistik und Ägyptologie in Leipzig.
- Lynette Roth, Daimler Kuratorin des Busch-Reisinger Museums und des Harvard Art Museums, Boston (USA): Studium der Kunstgeschichte an der Johns Hopkins University of Maryland und an der Uni Köln.
- Nathan Sznaider, Dozent an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv (Israel): Studium der Soziologie, Psychologie, Geschichte und Philosophie an der Universität von Tel Aviv und der Columbia University of New York City. Promotion über die Sozialgeschichte des Mitleids
- Florian Illies, Mitglied des Herausgeberkreises der „Zeit“: Studium der Kunstgeschichte und der neueren Geschichte an den Universitäten in Bonn und Oxford. Journalistische Publikationen in den namhaften Medien der Republik, Buchpublikationen. Auszeichnungen, u.a. Hessischer Kulturpreis (2003), Ludwig-Börne-Preis (2014). orp
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