So viele Zuhörer wie beim Vortrag von Florian Illies aus Berlin hatte das Große Forum der Kunsthalle Mannheim wohl selten gesehen. Lag es am provozierenden Titel: „Wann wird Distanz zur Teilnahmslosigkeit? Moralische Fragen an die Künstler der Neuen Sachlichkeit“, oder an der Prominenz des Vortragenden, dessen Esprit bereits in der euphorischen Begrüßung von Museumsdirektor Johan Holten seine Würdigung erfuhr?
Jedenfalls wurden die Erwartungen nicht enttäuscht, denn der Referent, der sich zur Unterstreichung der Kernaussage einen Arztkittel angelegt hatte, trug sein breitgefächertes Wissen über die Zeit zwischen den Kriegen unterhaltsam einem gespannt lauschenden Auditorium vor. Durch zahlreiche Bildbeispiele belegt, erschloss er mit in seinem Vortrag neue Perspektiven. So sezierte er den Kern der Kunst der Neusachlichen auf das zentrale Motiv der teilnahmslosen Beobachtung der erscheinenden Wirklichkeit und grenzte so den neusachlichen Malstil von der emotionalen Aufheizung des Expressionismus ab. Diese Grundhaltung wurde vom Referenten als „Unterkühlte Sachlichkeit“ beschrieben und findet ihre literarische Entsprechung beispielsweise in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und in Gottfried Benns Gedichten. Diese Literaten waren beide praktizierende Ärzte.
Die Diagnose des unterkühlten, gefühllosen Analytikers trifft allerdings nur auf eine bestimmte Gruppe von Künstlern zu, die in der historischen Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ vertreten waren. So gehörten die „Veristen“ Otto Dix oder Kurt Querner, der in der Jubiläumsausstellung mit seinem Bild „Der Agitator“ vertreten ist, nicht zu dieser auf diese Weise beschriebenen Gruppe. Eher passt die Zuschreibung zu Malern wie Alexander Kanoldt und Georg Schrimpf, die in der Nazizeit als Lehrende an die namhaften Kunstakademien Deutschlands berufen wurden. Der Stil der Neuen Sachlichkeit lebte auch in der Nazizeit weiter, wie einige Beispiele in der aktuellen Ausstellung, etwas das im Interview mit Inge Herold erwähnte Gemälde „Bauernfamilie“, das Adolf Wissel 1938 gemalt hat, anschaulich belegt.
Ein besonderes Verdienst der Mannheimer Ausstellung sei es, so Illies zu Beginn der Diskussion über seine Thesen, dass hier die Kunstbetrachtung nicht wie üblich, das Licht über die Entwicklung am 30. Januar 1933 ausgeknipst habe, und erst am 9. Mai 1945 wieder einschalte, sondern zeige, was in der Zwischenzeit passierte.
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