So stürmisch wie am Anfang geht es nicht weiter. Beethovens „Coriolan“-Ouverture, mit der das fünfte Akademie-Konzert im Mozartsaal des Mannheimer Rosengartens beginnt, ist der Versuch, musikalisch zu porträtieren, was Dichter erfunden haben: den römischen Feldherrn Gnaeus Marcius Coriolanus. Shakespeare hat ihm ebenso ein Drama gewidmet wie der Romantiker Heinrich von Collins, Hofrat in Wien, dessen fünfaktiges Stück den Komponisten zu seinem Werk anregte. Da der römische Patrizier angeblich ein chaotischer, offenbar auch etwas rachsüchtiger Kriegsheld war, hat ihm Beethoven heftige Fortissimo-Klänge und abrupte Orchesterschläge gewidmet. Ganz glücklich wird man damit nicht. Doch wie Benjamin Reiners mit Unterstützung des Mannheimer Nationaltheater-Orchesters die für Beethoven typisch drängende Vorwärtsbewegung manchmal ins beklemmend Unheimliche führt, ist bemerkenswert. Obwohl die freigesetzten dynamischen Fliehkräfte das lyrisch gestimmte Seitenthema als notwendigen Gegensatz manchmal nicht so recht erblühen lassen.
Etwa anderthalb Jahrzehnte zuvor war in Mozarts Todesjahr 1791 sein A-Dur-Klarinettenkonzert (KV 622) uraufgeführt worden. Wie auch in seinen anderen konzertanten Spätwerken meidet er bewusst extreme Kontraste. Mozart entdeckt für diese Schaffensphase lichtdurchflutete innere Balancen, die es dem Solisten erlauben, zu brillieren, aber auch Mozarts Musik ausdrucksbezogen in eine nachhaltig berührende Klangrede zu übersetzen.
Vorgaben, die dem Klarinettisten Nicolas Baldeyrou nicht unbekannt sind. Dass die wunderbare Klarheit seines Spiels sowohl der glänzenden Technik als auch seiner makellosen Intonation zu verdanken ist, hört man rasch. Den virtuosen Passagen gewinnt er feinste Nuancen ab und begeistert im sensibel ausgeloteten Dialog mit dem Orchester.
Drei Jahrzehnte Musikgeschichte
Vieles entwickelt sich hier in Reiners behutsamer instrumentaler Vernetzung aus schlanken Impulsen, die sich zu klingenden Zentren voll ungeahnter Möglichkeiten und verborgener Schönheiten erweitern. So entsteht jenseits analytischer Fixierbarkeit ein subtil ausgeleuchteter Klangraum, in dem sich Mozarts Musik wie eine zweite Natur entfalten kann.
Schuberts dritte Sinfonie von 1815 beendet den Gang durch mehr als drei Jahrzehnte Musikgeschichte. Ein frühes Werk, das häufig auf kompositorisch Vertrautes zurückgreift, manches aber auch neu hinzuerfindet, ohne überlieferte Strukturen grundsätzlich anzutasten. Aber um formale Details allein, so wichtig sie für die weitere Entwicklung Schuberts auch sein mögen, geht es nicht. Aufschlussreicher ist, wie Reiners inspirierende Leitung das Werk des Achtzehnjährigen zwischen Spätklassik und Romantik einordnet, es häufig dort mit Bedeutung auflädt, wo sich stilistische Besonderheiten von Schuberts kompositorischer Zukunft andeuten. Über Mozart und Beethoven hinaus wird weitergedacht, werden Türen durchschritten, die beide in Richtung Romantik und Subjektivität folgenreich aufgestoßen haben. Solche „unterirdischen“ Bezüge sind es immer wieder, die dem Abend programmatisch seine Spannung im Emotionalen und Intellektuellen sichern.
Die Abgründe des Melodischen
Reiners und das Nationaltheater-Orchester durchmessen Schuberts klingenden Kosmos bravourös. Sie sind seinen eigenständigen melodischen Erfindungen ebenso auf der Spur wie den oft farbigen Orchestrierungskünsten. Und im einleitenden Adagio ist so manche harmonische Wendung zu hören, die vorwegzunehmen scheint, was Schubert später changierend zwischen Dur und Moll an trostloser Zerrissenheit hervorbringen kann. Eindrucksvoll jedenfalls mit welcher Leichtigkeit Reiners und das Orchester diese Musik konzentriert ausformen, wie es ihnen gelingt, das Tänzerische feinsinnig auszupendeln oder inmitten verdichteter Klänge zarte Linien freizulegen. Der erdenferne Schubert ist das noch nicht, aber ein junger Komponist, der taktweise beginnt, über die Abgründe des Melodischen nachzudenken.
Und wenn Reiners zum Schluss ohne allzu aufwendigen Druck das Orchester im „Presto vivace“ geschmeidig durch den ostinaten Rhythmus einer Tarantella jagt und so ganz nebenbei Schuberts Neugierde auf Farben und Formen vital zum Leben erweckt, dann ist die Begeisterung des Publikums durchaus berechtigt.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-musik-in-natur-verwandelt-benjamin-reiners-dirigiert-im-mannheimer-rosengarten-_arid,2061420.html