Mannheim

Hülya Ayaglar ruft Mannheimer türkischstämmige Community auf, zu wählen

Wer ist die Frau, deren Aufruf, an der Mannheimer OB-Wahl teilzunehmen, vor kurzem in der türkischen Zeitung "Vizyon" erschienen ist? Ein Porträt

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Hülya Ayaglar wirbt in der türkischen Community dafür, an der OB-Wahl teilzunehmen. © Thomas Tröster

Auf der Zielgeraden des Wahlkampfs um die Rathaus-Spitze sorgt für Aufregung, dass die in Mannheim und der Region erscheinende türkische Zeitung „Vizyon“ (was Vision bedeutet) den OB-Kandidaten der SPD in einem Interview vorstellt. Auf der Titelseite mit dem großformatigen Foto von Thorsten Riehle kommt außerdem Hülya Ayaglar zu Wort - mit einem Aufruf an die türkischstämmige Community, unbedingt an die Urne zu gehen und sich damit zur Demokratie zu bekennen. Wir treffen uns mit der selbstständigen Dolmetscherin und Mutter eines Sohnes.

Hülya Ayaglar hält wenig von Klischees und bestellt deshalb in einem am Marktplatz angrenzenden türkischen Lokal nicht etwa einen Mocca, sondern Cappuccino. Und gleich zu Beginn unseres Gesprächs betont sie: „Ich bin und fühle mich als Mannheimerin.“ Gleichwohl gehöre zu ihrer Identität, „Gastarbeiter-Enkelkind“ zu sein - mit kurdischen Wurzeln.

Gymnasium nicht zugetraut

Jene Innenstadt-Quadrate, wo sich in den letzten Jahrzehnten eine bunte Geschäftswelt der „türkischen Community“, wie es Hülya Ayaglar formuliert, etabliert hat, nennt sie „mein Revier“. Schließlich ist sie dort aufgewachsen, ehe die Familie später auf die Rheinau zog. Als die kleine Hülya 1974 als Älteste von insgesamt sieben Kindern - inzwischen besitzen alle Geschwister die deutsche Staatsangehörigkeit - zur Welt kam, war ihre Mutter noch sehr jung und konnte weder lesen noch schreiben. Analphabetin blieb sie und dennoch „ist sie sehr, sehr intelligent“ , sagt Hülya Ayaglar. Ihr ist wichtig zu betonen, dass Menschen, die keine Bildungschancen hatten, gleichwohl lebensklug sein können. Sowohl für ihren Vater, einen Arbeiter, wie für die Mutter sei stets klar gewesen, dass nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter einen Schulabschluss machen und danach studieren oder einen Beruf erlernen. „Aber es war sehr schwer.“ Hülya Ayaglar berichtet, dass sie die ersten sieben Jahre kein Wort Deutsch gesprochen hat - „damals war es für türkische Familien kaum möglich, einen Kindergartenplatz zu finden“. Das habe sich freilich bei ihren jüngeren Geschwistern geändert.

Vor der ersten Klasse besuchte die kleine Hülya immerhin in Räumen der Abendakademie so etwas wie eine Vorschule. Noch heute schmerzt sie, dass man ihr in der Grundschule nicht das Gymnasium zutraute. „Du wirst ja ohnehin früh heiraten“, habe ein Lehrer gesagt. Das lernwillige Mädchen kam verspätet auf die Realschule und machte im Anschluss auf der Helene-Lange-Schule das Abitur. Auch wenn ihre Eltern davon träumten, die Tochter werde Ärztin oder Juristin, so entschied diese sich für Romanistik und obendrein Islamwissenschaften, „was irrtümlich für so etwas wie Theologie gehalten wurde“. Nach einigen Semestern stieg sie auf internationales Management um und arbeitete nach der Uni bei verschiedenen Firmen - auch bei der von dem Mannheimer Vorzeigeunternehmer Mustafa Baklan international aufgebauten Lebensmittel-Handelsgesellschaft Suntat. Über diese Tätigkeit und den gemeinnützigen Verein „Suntat Bildungsbrücke“ sei sie in der „Community“ zur Ansprechpartnerin geworden.

„Ich habe mich oft gefragt, warum viele türkische Geschäfte keine deutsche Kundschaft haben.“ In Gesprächen stellte Hülya Ayaglar fest, dass über Wünsche und Gepflogenheiten unterschiedlicher Zielgruppen häufig gar nicht nachgedacht werde. Außerdem beobachtete sie: „Das Bedürfnis, Teil der Stadtgesellschaft zu werden, ist heutzutage geringer als noch in der Zeit meiner Großeltern und Eltern.“ Das möchte die Frau mit den langen schwarzen Haaren ändern. Unlängst hat sie bei einer Veranstaltung mit türkischstämmigen Unternehmern dafür geworben, sich unbedingt an der OB-Wahl zu beteiligen.

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Nein, sie fühle sich keineswegs zwischen Kulturen hin- und hergerissen. Hülya Ayaglar: „Ich habe aus drei Kulturen, der deutschen, türkischen und kurdischen, das Beste für mich herausgeholt.“ Und Mannheim empfinde sie als „erweiterte Familie“. Diese Erfahrung möchte sie als Botschaft weitergeben - auch im Ortsverband der SPD für den Bereich Innenstadt-Jungbusch, wo besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Inzwischen hat sich die Mutter eines 14-jährigen Sohnes noch einmal weitergebildet und mit einem Dolmetscherbüro für die Schwerpunktsprachen Türkisch und Kurdisch selbstständig gemacht. Während der Pandemie habe sie beispielsweise Corona-Verordnungen der Stadt übersetzt. Sie dolmetscht aber auch für Gerichte.

Molotow-Cocktail in Wohnung

Hülya Ayaglar weiß aus eigener Erfahrung, dass zu Migranten-Biografien oftmals Verletzungen gehören, die nur schwer heilen. Sie vermag kaum ihre Emotionen zu verbergen, als sie schildert , wie 1993 - in jenem Jahr des tödlichen Brandanschlags von Solingen - ein Molotow-Cocktail in die Rheinauer Wohnung der Familie geworfen wurde. „Aber wir hatten Glück, bei uns kam niemand um.“ Die Täter seien nie gefunden worden. Und wie ging die Familie mit der Attacke um? „Meine Mutter hat gesagt, wir können vergeben, werden aber nicht vergessen.“ Geholfen habe, dass damals viele Menschen , auch Deutsche, große Anteilnahme zeigten. Und diese Erfahrung wiederholte sich vor einigen Monaten nach dem schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien.

Freie Autorin

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