Mannheim. Rita Althausen betont im Interview, dass sich der Alltag der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde gar nicht so von dem der Mitbürger anderer Glaubensgemeinschaften unterscheidet. Die Vorsitzende der Gemeinde wünscht sich, dass mehr Schüler die Synagoge besuchen.
Frau Althausen, die Jüdische Gemeinde ist mit 470 Mitgliedern recht klein.
Rita Althausen: Ja, klein, aber fein. Unsere Gemeinde fühlt sich in der Stadtgesellschaft sehr wohl. Wir gehören dazu, die Beziehungen zur Stadtspitze und zu allen Organisationen und Institutionen sind gut. Wir sind ein offenes Haus und führen viele Dialoge mit Menschen unterschiedlicher Herkunft.
Es gibt auch Menschen, die etwas gegen Juden haben.
Althausen: Gerade deshalb dürfen wir uns nicht ausgrenzen lassen, denn dann hätten diese Leute gewonnen. Daher treten wir ganz selbstbewusst in der Stadt auf und zeigen, was wir zu bieten haben.
Was denn zum Beispiel?
Althausen: Viele kulturelle Veranstaltungen, die wir leider seit Corona herunterfahren mussten. Denken Sie an unseren Frühlingsball, den wir zwei Mal ausfallen lassen mussten. Der ist das Stadtereignis. Normalerweise kommen rund 400 Besucher. Viele melden sich danach gleich wieder fürs nächste Jahr an. Kein Wunder, es gibt Musik, Tanz und eine wunderbare Tombola. Leute aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen kommen zusammen. Das zeigt, dass wir im Herzen der Stadt leben. Unsere Synagoge steht ja auch im Zentrum Mannheims. Dort gehören wir hin.
Glauben Sie, dass die Mitbürger den jüdischen Alltag kennen?
Althausen: Nur zum Teil. Deshalb gibt es auch Vorbehalte, die auf dieser Unkenntnis beruhen. Wir müssen den Menschen genauer erklären, wie der jüdische Alltag aussieht.
Dann erzählen Sie doch mal, wie er aussieht.
Althausen: Auf einen Nenner gebracht: ähnlich wie bei anderen Menschen. Das fängt schon damit an, dass es jedem Mitglied der Gemeinde selbst überlassen bleibt, ob es in die Synagoge geht. Das ist bei den Christen und Muslimen doch auch nicht anders. Sie besuchen die Kirche oder die Moschee. Oder lassen es bleiben. Wir Juden haben zwar bestimmte Speisegesetze, das heißt, Fleisch und Milch dürfen nicht gemischt werden, und die Lebensmittel müssen koscher sein. Aber auch da schreiben wir es keinem vor, wie er das praktizieren soll. Wer Freunde zu sich nach Hause einlädt, kann als Gastgeber selbst entscheiden, ob alles koscher ist oder nicht.
Rita Althausen
Rita Althausen wurde 1954 in Mannheim geboren.
Seit 2019 ist sie Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde.
Sie war bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin am Elisabeth-Gymnasium.
Sie engagiert sich in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Rhein-Neckar sowie in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Sie vertritt ihre Gemeinde beim Oberrat der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Baden.
Sie würden also keinem jüdischen Bürger Vorwürfe machen, wenn dieser Gäste zu sich nach Hause einlädt und sich nicht an die Speisegesetze hält?
Althausen: Natürlich nicht. Diese Regeln sind wichtig, aber sie bestimmen nicht unser Leben. Denn das unterscheidet sich nicht von dem der Mitbürger. Wir gehen zur Arbeit, die Jugendlichen sind Mitglieder im Sportverein, sie treffen sich mit Freunden und besuchen die Disco. Da gibt es keinen Unterschied. Deshalb lassen wir uns auch nicht ausgrenzen oder ins Abseits stellen. Und wir wollen nicht, dass immer nur vom Antisemitismus die Rede ist, und wir auf ihn reduziert werden.
Sollen die Schulklassen auch die Synagoge besuchen?
Althausen: Natürlich. Denn die Schüler bekommen dort zusätzliche Informationen. Wir erzählen ihnen von unserer Geschichte. Und dazu gehört auch die Religion. Denn die Religion wirkt sich auf den Alltag aus und beeinflusst nicht nur unser Leben, sondern das Leben aller. Viele Errungenschaften sind aufgrund der Tora entstanden, also unserer heiligen Schrift.
Welche denn?
Althausen: Das Judentum hat eine lange Tradition des Hinterfragens und Diskutierens. Das ist wichtig, vor allem in den Wissenschaften. Da muss man viel hin- und herwälzen und besprechen, um die Lösung zu finden. Man muss sich austauschen. Und das machen wir immer, weil wir uns ständig damit befassen müssen, wie wir die Gesetze der Tora auslegen sollen. Da wird alles bis ins Detail auseinandergenommen. Und genauso läuft es in der Wissenschaft. Deshalb ist es kein Zufall, dass viele große Wissenschaftler – wie etwa Albert Einstein – Juden waren. Judentum und Fortschritt gehören nämlich zusammen.
Zum Alltag der Juden gehört auch der Schabatt.
Althausen: Genau. Am siebten Wochentag darf keiner arbeiten. Das gilt seit 3000 Jahren. Für Menschen und Tiere. Die ersten Juden waren Bauern, die auf dem Feld gearbeitet haben. Da gab es keine Maschinen. Die Knechte und Mägde mussten sieben Tage die Woche arbeiten. Und dann sagte dieses Volk: Man muss sich einmal die Woche ausruhen. Wie lange hat das damals gedauert, bis man einen Ruhetag pro Woche per Gesetz verankert hat! Der Schabbat dient der inneren Ruhe, der Einkehr und der Harmonie mit der Umwelt, eigentlich ist er ein Geschenk für alle. Auch der Tierschutz ist im Judentum tief verankert. Man darf keine Tiere quälen. Das alles fließt in unseren Alltag hinein und hat sich auch in anderen Kulturen verbreitet. Krankenbesuche sind auch Pflicht. Das Judentum hat einfach sehr viele soziale Aspekte.
Sie glauben also, dass die Vorbehalte gegen Ihre Gemeinde weniger würden, wenn die Mitbürger in Mannheim mehr über den jüdischen Alltag wüssten?
Althausen: Ja, wir müssen deshalb auch mit der Jugend mehr in Kontakt treten und mit ihr sprechen. Denn der Jugend gehört doch die Zukunft. Deshalb wollen wir zum Beispiel auch junge Muslime in unsere Synagoge einladen.
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