Großbritannien - Nach fast 100 Tagen Brexit kämpfen Unternehmen der Region mit viel mehr Bürokratie und weiter ungeklärten Fragen

Unternehmen kämpfen nach Brexit mit mehr Bürokratie und ungeklärten Fragen

Von 
Bettina Eschbacher
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Metropolregion. Zum 1. Januar 2021 trat Großbritannien offiziell aus der EU aus, erst wenige Tage davor hatten Brüssel und London ein Abkommen erzielt, das die wichtigsten Fragen der neuen Handelsbeziehungen regelte. Die Wirtschaft der Region zieht ein ernüchterndes Fazit des Neustarts nach fast 100 Tagen:

Wo bekommen Unternehmen den Brexit am meisten zu spüren?

„Das größte Problem ist die Zollbürokratie“, sagt Bernhard Schuster, Projektleiter bei der IHK Rhein-Neckar für den Geschäftsbereich International. Das bekomme vor allem die Logistikbranche zu spüren, wie eine Sprecherin der Weinheimer Logistikgruppe Trans-o-flex bestätigt: Man habe sich zwar gut vorbereitet und vorab schon alle Abwicklungen rund um die Ein- und Ausfuhr von Großbritannien nach Weinheim verlagert. Doch habe es „auf der britischen Seite und vor allem bei den Zollbehörden an der einen oder anderen Stelle gehakt“, so die Sprecherin. So kam es in den ersten Wochen teilweise zu 20 Kilometer langen Staus und Verzögerungen von bis zu einem Tag.

Woher kommt das Mehr an Bürokratie?

Weil das Vereinigte Königreich (UK) nicht mehr zur EU zählt, sind unzählige neue Formalitäten nötig: Zollformulare, Kontrollen, Herkunftsnachweise, Auflagen für den Import von Lebensmitteln, Genehmigungen, Einfuhrumsatzsteuer . . . „Einfach die Ware auf die Insel bringen geht nicht mehr“, sagt Jovana Stojkoski, Expertin für Internationales bei der IHK Darmstadt. Gerade für Unternehmen, die bisher nur innerhalb der EU Geschäftsbeziehungen hatten, heißt das mehr Zeitaufwand und oft mehr Kosten. Die Kammern erleben einen viel höheren Beratungsbedarf der Firmen.

Wann ist mit einer Normalisierung zur rechnen?

Der Deal sei ja sehr kurzfristig zustande gekommen, erklärt Schuster. In einige Bereichen gebe es daher noch Unklarheiten. „Es wird noch einige Monate dauern, bis sich die Wirtschaft auf die neuen Szenarien eingestellt hat und bis die Vorgaben klar werden“, sagt Schuster und verweist auf das 1250 Seiten fassende Brexit-Dokument. All die neuen Regelungen bringen weitere bürokratische Hürden - und Kosten - mit sich.

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Wo sind die Fallstricke oder Lücken im Abkommen?

Laut Schuster gilt zwar Zollfreiheit für Waren mit Ursprung in der EU oder Großbritannien. Werden aber Teile aus Nicht-EU-Ländern verarbeitet, werden doch Zölle fällig. Oder Transportwege müssen komplett umgestellt werden. So hat die Osterburkener Azo-Gruppe zwar eine Vertretung in Großbritannien. Wenn der Spezialist für Rohstoff-Automation aber Anlagenteile in das EU-Land Irland aus dem heimischen Neckar-Odenwald-Kreis schicken will, geht das jetzt nicht mehr über das Vereinigte Königreich - die Ware wird um die Insel herum verschifft. Und dass alle britischen Kunden erst einmal neue Steuernummern beantragen mussten, habe zu Lieferverzögerungen geführt, erklärt Klaus Bachmann, der bei Azo für die Exportkontrollen zuständig ist.

Werden Dienstreisen nach Großbritannien auch schwieriger?

Grundsätzlich sind kurze Dienstreisen nach UK möglich, etwa um eine in Deutschland bestellte Anlage zu installieren. Das gilt, wie IHK-Experte Schuster erklärt, aber nur für die Mitarbeiter der eigenen Firma. Sollen Mitarbeiter von Subunternehmen mit einreisen, werde es deutlich komplizierter. Bei längeren Tätigkeiten muss aber ein Visum beantragt werden. Die Corona-Situation mit sich ständig verändernden Einreise-Regelungen macht die Lage aktuell noch schwieriger.

Wie haben sich die Export-Zahlen seit dem Brexit entwickelt?

Für Januar meldete das britische Statistikamt ONS einen Absturz der Exporte in die EU um 40,7 Prozent; die Importe aus der EU brachen um 28,8 Prozent ein. Allerdings hatten zuvor auch viele Unternehmen aus Angst vor den Brexit-Folgen ihre Lager gefüllt, wie Kammer-Fachfrau Stojkoski erklärt. „In den nächsten Monaten wird sich die Situation sicher stabilisieren, auch wenn das Handelsvolumen der Vorjahre vermutlich nicht erreicht wird.“

Wie sind die Perspektiven für die Unternehmen mit UK-Geschäft?

Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammern planen 15 Prozent der befragten Unternehmen eine Verlagerung ihres Engagements auf andere Märkte, etwa innerhalb der EU. Nach wie vor herrscht große Unsicherheit, vieles ist noch ungeklärt. Das belastet die Unternehmen. „Wir sind eigentlich immer in Hab-Acht-Stellung“, sagt zum Beispiel Azo-Vertriebschef Dieter Huspenina. Trotzdem will sich Azo nicht von der Insel zurückziehen. Dass dort zum Beispiel mehrere Gigafabriken für E-Batterien geplant seien, biete Chancen für Großaufträge. IHK-Experte Schuster: „Der Standort UK wird unattraktiver, aber er bleibt ein wichtiger Absatzmarkt.“

Redaktion Bettina Eschbacher ist Teamleiterin Wirtschaft.

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