London. Etwas mehr als ein halbes Jahr nach dem vollständigen Inkrafttreten will die britische Regierung Teile des Brexit-Abkommens neu verhandeln. Das sagte der britische Brexit-Beauftragte David Frost am Mittwoch in London. Es brauche „erhebliche Änderungen“ am sogenannten Nordirland-Protokoll, so das Kabinettsmitglied im Oberhaus. Er fügte hinzu: „Um es einfach auszudrücken, wir können so nicht weitermachen.“
Aus Brüssel kam eine direkte Absage. Man werde zwar mit London zusammenarbeiten, um „kreative Lösungen im Rahmen des Protokolls zu suchen“, sagte EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic einer Mitteilung zufolge. Er fügte jedoch hinzu: „Einer Neuverhandlung des Protokolls werden wir nicht zustimmen.“ Brüssel wirft der britischen Regierung vor, das Protokoll nicht richtig umzusetzen. London bezichtigt hingegen die EU-Kommission, die Regeln zu kleinlich auszulegen.
Hintergrund des Streits ist die Vereinbarung, dass Nordirland weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts folgt. Damit sollen Warenkontrollen zwischen der britischen Provinz und dem EU-Mitglied Republik Irland verhindert werden. Ansonsten wird mit einem Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet. Die mehrheitlich katholischen Befürworter einer Vereinigung mit Irland bestehen auf einer offenen Grenze zu dem Nachbarn.
Das Nordirland-Protokoll erschwert allerdings den Handel zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Dort muss nun kontrolliert werden, damit keine Waren aus Drittländern durch die Hintertür in den EU-Binnenmarkt gelangen. Das sorgt für Spannungen, vor allem bei den überwiegend protestantischen Anhängern der Union mit Großbritannien. Zeitweise gab es bereits leere Obst- oder Gemüseregale in einigen nordirischen Supermärkten, viele befürchten für die Zukunft weitere, noch größere Engpässe bei Lebensmitteln und anderen Produkten.
Die bisherigen Regelungen seien nicht geeignet, den Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion zu sichern, erklärte Frost. „Während wir versucht haben, das Protokoll umzusetzen, ist klar geworden, dass seine Lasten zur Quelle von erheblicher und andauernder Beeinträchtigung für Leben und Lebensunterhalt geworden sind“.
Daher müsse nun ein neues Gleichgewicht geschaffen werden, das den Handel mit Waren zwischen Großbritannien und Nordirland erleichtere. Auch sollten EU-Institutionen wie der Europäische Gerichtshof keine Rolle mehr bei der Überwachung des Abkommens spielen.
Frost schlug der EU eine „Periode des Stillstands“ vor, in der bislang geltende Übergangsfristen verlängert und rechtliche Streitigkeiten pausiert werden sollten. Die letzte Konsequenz mit Artikel 16, mit dem Teile der Vereinbarung außer Kraft gesetzt werden können, wolle man aber noch nicht ziehen. Man hoffe weiter auf eine Einigung mit Brüssel. Premierminister Boris Johnson hatte schon bald nach Abschluss des Brexit-Abkommens immer wieder behauptet, es werde keinerlei Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland geben.
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