Mannheim/Darmstadt/Weinheim. Am 1. Januar 2021 ist es endgültig: Ab dann wird Großbritannien nicht mehr wie ein EU-Land behandelt, der Brexit wird vollzogen. Während Brüssel und London weiter verhandeln, rüstet sich die Wirtschaft in der Region längst für den schlimmsten Fall: einen No-Deal-Brexit – eine Trennung ohne Abkommen.
Was wird sich auf jeden Fall zum 1. Januar 2021 ändern – ob mit oder ohne Abkommen?
„Großbritannien ist dann endgültig Drittland“, erklärt Bernhard Schuster, Projektleiter bei der IHK Rhein-Neckar für den Geschäftsbereich International. Die Union und das Vereinigte Königreich werden dann getrennte Regulierungs- und Rechtsräume entwickeln. „Dann fallen alle Freizügigkeiten weg – für Personen, im Warenverkehr und bei Dienstleistungen.“
Was passiert, wenn tatsächlich bis Ende Dezember kein Abkommen zustande kommt?
„Wenn ab Januar 2021 alle üblichen Zollformalitäten mit Drittstaaten greifen, bedeutet das einen großen bürokratischem Aufwand für die Betriebe“, erklärt Jovana Stojkoski, Expertin für Internationales bei der IHK Darmstadt. „Unternehmen müssen Ausfuhranmeldungen erstellen und sich damit auseinandersetzen, ob die Lieferung einer Ausfuhrgenehmigung bedarf, ob die europäische CE-Kennzeichnung noch gültig ist und welche Normen zukünftig zu beachten sind.“ Und es werden Zölle anfallen, für alle Waren, die ein- oder ausgeführt werden.
Wie sehr trifft das die Wirtschaft in der Region?
Sehr, sagt Schuster und verweist auf die Exportstärke der Industriebetriebe in der Region. Besonders betroffen seien die Autozulieferbranche und die Maschinen- und Anlagenbauer, für die Großbritannien bisher ein wichtiger Handelspartner war. Im Neckar-Odenwald-Kreis zum Beispiel sitzt eine Reihe von mittelständischen Zulieferern. Auch in Südhessen trifft der Brexit am stärksten die Automobilindustrie – neben der Pharmabranche. Sollte ein No-Deal-Brexit kommen, drohen Stojkoski zufolge ab 2021 allein der hessischen Automobilbranche im Jahr Zölle von 7,2 Millionen Euro. Seit dem Brexit-Referendum 2016 ist die Bedeutung Großbritanniens als Handelspartner aber bereits deutlich zurückgegangen.
Kommen höhere Preise auf uns Verbraucher zu?
Vor allem wegen der Zölle ist damit in einigen Bereichen zu rechnen. BMW etwa kündigt an, bei einem No-Deal-Brexit die Preise für Minis rasch zu erhöhen. Der Autobauer rechnet damit, dass ab 1. Januar zehn Prozent Zoll fällig würden auf Minis aus Oxford, die in der EU verkauft werden, und auf BMW aus Deutschland, die auf der Insel verkauft werden. Schuster sieht weitere Kosten auf Hersteller wegen des wachsenden Aufwandes an Bürokratie zukommen. IHK-Expertin Stojkoski weist auch auf Mehrkosten für Privatkunden beim Online-Handel hin. Wer künftig im Vereinigten Königreich eine Ware ab einem Wert von 22 Euro bestelle, müsse mit einer höheren Umsatzsteuer rechnen. Bei einem Warenwert über 150 Euro könnten zudem Zölle anfallen.
Wo sind die größten Baustellen bei einem No-Deal-Brexit?
Ein Problem ist, dass EU-Bürger demnächst nicht mehr frei auf die Insel einreisen können. Schwierig wird es dann zum Beispiel für einen hiesigen Maschinenbauer, der nach Großbritannien verkaufte Anlagen dort warten oder reparieren soll. „Voraussichtlich brauchen deutsche Mitarbeiter dann ein Visum oder möglicherweise sogar eine Arbeitserlaubnis“, erklärt Schuster. Aufwendiger wird es auch, wenn künftig unterschiedliche Produktstandards und Zertifizierungen gelten. Dann muss etwa ein Spielzeughersteller sein Produkt in der EU zertifizieren lassen, um das hier übliche CE-Kennzeichen zu bekommen. Will er es auch auf der Insel verkaufen, müsste er es dort noch einmal extra für eine britische Kennzeichnung zertifizieren lassen.
Wie bereiten sich Unternehmen in der Region vor, wie ist die Stimmung?
„Sie bereiten sich auf den schlimmsten Fall, also einen Brexit ohne Abkommen, vor und hoffen gleichzeitig auf das Beste“, sagt Schuster. Darauf verlassen, dass es zwischen London und Brüssel doch noch zu einer Einigung kommt, könne sich niemand. Der Informationsbedarf der Firmen ist entsprechend groß, bei Brexit-Webinaren der IHKs hatten sich mehrere Hundert Teilnehmer angemeldet. „Die Stimmung ist sehr angespannt“, sagt Stojkoski. „Die Unternehmen brauchen endlich Klarheit über die künftigen Rahmenbedingungen. Die Ungewissheit ist Gift für die Wirtschaft“, betont Schuster.
Ist mit Lieferschwierigkeiten und langen Lkw-Staus zum Jahresanfang zu rechnen?
Das wollen die beiden Kammer-Experten nicht ausschließen, weil die neuen Zollkontrollen zu Verzögerungen führen könnten. Fast die Hälfte der Warentransporte zwischen Großbritannien und der EU läuft über Lkw und Bahn. „Der Eurotunnel und die Fähre Calais – Dover sind bereits jetzt Nadelöhre“, sagt Schuster. Allerdings hätten sich viele Unternehmen Brexit-Puffer aufgebaut und ihre Lager vor Ort aufgefüllt, um Lieferschwierigkeiten zum Jahresanfang zu vermeiden. Die könnten dafür zeitverzögert einige Wochen später eintreten.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/wirtschaft_artikel,-wirtschaft-mehr-kosten-mehr-aufwand-und-ein-rest-hoffnung-_arid,1731286.html