Mannheim. Meine Güte, wie gut der Mann mit seinen 87 Jahren noch zu Fuß ist! Das Angebot, ihm die Aktentasche abzunehmen, weist Roland Hartung deshalb natürlich mit einem verwunderten Kopfschütteln zurück. Und schon auf dem Weg vom Empfang zur Redaktion stellt sich heraus, dass er noch immer blitzschnell denkt und seinen Humor nicht verloren hat.
In der Quadratestadt ist der Mannheimer bekannt wie ein bunter Hund. In seiner aktiven Zeit war Hartung CDU-Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat. Drei Mal trat er – allerdings erfolglos – als OB-Kandidat an. Doch die Kommunalpolitik spielt bei unseren Treffen keine besondere Rolle. Hartung war vor 25 Jahren als Vorstandsvorsitzender die treibende Kraft des Börsengangs der Mannheimer MVV Energie AG.
Börsengang der MVV ein „historisches Ereignis“
Das mag jüngeren Zeitgenossen, die ihre Aktiengeschäfte per App tätigen, nur ein gelangweiltes „Na und?!“ entlocken, aber 1999 war dies, wie es Hartung damals ausdrückte, „ein historisches Ereignis“. Der damalige Oberbürgermeister Gerhard Widder (SPD) – gegen den Hartung 1983 verloren hatte – unterstützte als Aufsichtsratsvorsitzender nach anfänglichen Bauchschmerzen die „Jahrhundertentscheidung“, wie er selbst sie seinerzeit nannte. Ohne diese hätte die MVV ihre Erfolgsgeschichte nicht schreiben können.
Roland Hartung
- Roland Hartung wurde 1936 in Mannheim geboren. Er wuchs in Käfertal auf.
- Von 1964 bis 1988 war Hartung Rechtsanwalt. 1965 wurde er in den Gemeinderat gewählt und führte über 13 Jahre die CDU-Fraktion.
- Drei Mal – in den Jahren 1972, 1980 und 1983 – kandidierte Hartung für die CDU bei der Oberbürgermeister-Wahl.
- 1988 wurde Hartung Vorstandssprecher bei der Mannheimer MVV Energie AG. Er führte sie 1999 an die Börse und wurde 2001 als „Energiemanager des Jahres“ geehrt.
- 2003 ging er in den Ruhestand.
- Die MVV ist mit ihren 6400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – davon 2350 in Mannheim – eines der führenden Energieunternehmen in Deutschland.
- Der Umsatz belief sich im Geschäftsjahr 2023 auf 7,5 Milliarden Euro.
Roland Hartung führte am 2. März 1999 die MVV an die Börse – als erster kommunaler Energieversorger in Deutschland. Damit wurde die Teilprivatisierung der MVV umgesetzt, deren Anteile zuvor zu 100 Prozent der Stadt Mannheim gehörten. „Wir waren unter den Stadtwerken das Einhorn. Viele dachten, die Mannheimer sind ja verrückt“, sagt Hartung, der 1988 den Chefposten übernommen hatte und immerhin bis 2003 behalten sollte.
MVV-Chef Roland Hartung war Seiteneinsteiger
„Als Seiteneinsteiger musste ich viel lernen“, sagt er. Die Idee mit dem Börsengang kam nicht als göttliche Eingebung über Nacht. Gemeinsam mit seinen Beratern musste Hartung viel hirnen, immerhin betrat das Stadtwerk Neuland. „Im Prinzip hat uns die EU zu unserem Glück gezwungen“, blickt der quirlige Kurpfälzer zurück.
Schon Anfang der 1990er Jahre machte sich im vereinten Deutschland eine gewisse Unruhe breit. Der Begriff „Deregulierung“ war zu einer Art Zauberformel geworden. Auch die Energiewirtschaft wurde nicht verschont, 1997 beschloss die EU die Liberalisierung der Märkte. „100 Jahre hatten die Stadtwerke ihre eigenen Monopole, es gab keinen Wettbewerb. Nach der Deregulierung wurde der Strom zu einer frei handelbaren Ware“, sagt Hartung. Aber einen Vorteil blieb den Stadtwerken: Als Eigentümer der kommunalen Netze behielten sie ein „Quasi-Monopol“. Aber damit wurden auch Begehrlichkeiten geweckt. Hartung: „Die Großen wollten sich das alles unter einen Nagel reißen.“
MVV sollte mit Börsengang wachsen
Die Deregulierung war also „der Treibsatz für den Börsengang“. Hartung kannte natürlich das Motto, das im Wettbewerb gilt: Fressen oder gefressen werden. Und der Vorstandssprecher hatte keine Lust, von der Konkurrenz geschluckt zu werden. „Mir war klar, dass wir deshalb wachsen müssen.“
Doch da gab es ein kleines Problem. „Die MVV hatte nicht genug Geld in der Kasse und die schon damals nicht auf Rosen gebettete Stadt Mannheim erst recht nicht. Wir brauchten deshalb frisches Kapital“, erklärt Hartung das Hauptmotiv für den Börsengang.
Dass sich dadurch auch die Unternehmenskultur ändern würde, lag auf der Hand. Die MVV war vor dem Börsengang nur mäßig gewinnorientiert. Die Stadt verfolgte als Ziele neben der Versorgungssicherheit bezahlbare Preise und die soziale Verantwortung. Das Minus, das die Verkehrsbetriebe regelmäßig erwirtschafteten, wurde durch die Gewinne im Energiesektor ausgeglichen. Der Stadt war es auch wichtig, dass die Betriebe in der Region mit Energie zu günstigen Preisen versorgt wurden, damit diese im Wettbewerb bestehen konnten.
Gerade die aktuelle Debatte in Mannheim über die hohen Energiepreise belegt, wie sich die Zeiten durch den Börsengang der MVV verändert haben. Der Einfluss der Stadt auf das Unternehmen ist nicht mehr vergleichbar mit der Vergangenheit, als ihr alle Anteile gehörten und sie in der Gesellschafterversammlung mit ihrem Vetorecht die Geschäfte der MVV notfalls diktieren konnte. „Die Stadt hat der MVV durch die Auflösung des alten Beherrschungsvertrags die Freiheit geschenkt“, sagt der Käfertaler.
Stadt Mannheim hat immer noch Mehrheit an MVV-Aktien
Die Stadt Mannheim hält nur noch die knappe Mehrheit der Aktien. Der Vermögensverwalter First Sentier Investors (Australien) will, dass sich seine 45,1 Prozent rentieren. Hartungs Nach-Nachfolger Georg Müller muss deshalb gute Ergebnisse liefern. Das ist ihm gelungen, wie die hohen Gewinne des Unternehmens beweisen, die im Geschäftsjahr 2023 den Rekordwert von 881 Millionen Euro erreichten – bei einem Umsatz, der auf die enorme Summe von 7,5 Milliarden Euro gestiegen ist.
Jeder Geschäftsbereich muss aber nach Müllers Darstellung für sich selbst wirtschaften – mit diesem Argument weist er die Forderungen in der Mannheimer SPD nach einer Quersubventionierung der Preise durch die hohen Erlöse im Energiegroßhandel zurück. Das enorme Wachstum der MVV hat andererseits dafür gesorgt, dass sie mit ihren Gewinnen die Energiewende in Mannheim finanzieren und die Kundenverträge nach und nach auf Grün umstellen kann.
Den Grundstein dafür legte der Börsengang. Durch die Ausgabe neuer Aktien sank der Anteil der Stadt auf 74 Prozent. Rund 205 Millionen Euro flossen in die Kassen. Hartung schlug einen Expansionskurs ein. Die MVV wuchs, sie beteiligte sich an anderen Stadtwerken und investierte viel im Ausland. 2001 wurde er als „Energiemanager des Jahres“ ausgezeichnet. Müller schaffte das übrigens 2015 auch.
Auf und Ab der MVV-Aktie
Und wie hat sich der Kurs der MVV-Aktie entwickelt? „Die Aktie war und ist über ein Vierteljahrhundert hinweg eine stabile und sich konkurrenzfähig verzinsende Kapitalanlage“, sagt Müller. Allerdings brauchten die Anleger einen langen Atem. Es gab über Jahre hinweg ein Auf und Ab. Am ersten Tag schloss die an den Börsen in Stuttgart und Frankfurt gehandelte Aktie mit 16,03 Euro. Danach setzte eine Talfahrt ein. Mitte März 1999 lag der Kurs zehn Prozent unter dem Ausgabepreis.
„Was ist los mit der MVV-Aktie?“, fragte der „Mannheimer Morgen“. Auf der Hauptversammlung im Februar 2000 verlangte eine Vertreterin der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre sogar den Rückkauf der Papiere zum Ausgabekurs plus Kostenerstattung. Hartung versprach den Kritikern mittelfristig einen Kurs von 20 Euro, der wurde im Februar 2001 erreicht, im September sackte die Aktie aber auf 14,25 Euro ab.
Bis 2006 kletterte der Kurs auf 26 Euro, 2007 notierte das Papier oberhalb der 30 Euro-Marke. Danach ging es wieder stark abwärts. Erst seit 2021 liegt die Aktie konstant über 30 Euro und notiert gegenwärtig zwischen 33 und 34 Euro. Die MVV schüttete jedes Jahr eine Dividende aus. Müller beziffert die Gesamtsumme auf 1,34 Milliarden Euro. „Es ist schon sehr gut gelaufen“, sagt Hartung und leiht dem Reporter den dicken Wälzer aus, den die MVV zu ihrem 150. Geburtstag veröffentlicht hat. Die seiner Meinung nach wichtigsten Stellen hat Hartung mit grünen Post-its markiert. Er selbst braucht die Gedankenstütze nicht.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/wirtschaft_artikel,-regionale-wirtschaft-wie-roland-hartung-1999-die-mannheimer-mvv-an-die-boerse-brachte-_arid,2179828.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,11.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-wie-spd-kandidat-widder-vor-40-jahren-die-mannheimer-ob-wahl-gewonnen-hat-_arid,2105701.html
[3] https://www.mannheimer-morgen.dehttps://www.mannheimer-morgen.de/firmen_firma,-_firmaid,11.html
[4] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Der MVV-Kunde muss die Rechnung für die Energiewende zahlen