Erinnerungen - Roland Hartung ist 1989 als MVV-Chef mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen, als die DDR die Mauer öffnet

MVV-Chef erlebt Maueröffnung gemeinsam mit Kohl

Von 
Peter W. Ragge
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Am 9. November 1989 schreiten Bundeskanzler Helmut Kohl (r.) und der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki in Warschau eine Ehrenformation der polnischen Streitkräfte ab. © Picture Alliance

Er fährt heute hin, mit der ganzen Familie: Roland Hartung geht direkt ans Brandenburger Tor nach Berlin, wie bei früheren besonderen Jahrestagen des Mauerfalls auch. Denn für ihn hat dieses Datum eine ganz besondere Bedeutung. Er war am 9. November 1989 als Mitglied der offiziellen Delegation mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl in Polen. Dort erfuhr der Regierungschef, was in Berlin passierte.

Roland Hartung ist seinerzeit Vorstandsvorsitzender der MVV Energie AG. Im damaligen Ostblock ist es üblich, dass viele Großstädte mit Fernwärme heizen. „Aber ihr Netz war malad, völlig veraltet“, so Hartung. Die MVV gilt damals – und bis heute – als Vorreiter, betreibt in Mannheim und der Region eines der größten und leistungsfähigsten Fernwärmenetze Europas. Schon seit April 1989 pflegt die MVV Kontakte in Polen. Hartung wird daher eingeladen, als Mitglied der offiziellen Wirtschaftsdelegation mit Kohl nach Warschau zu reisen.

Mit dabei ist ein zweiter Mannheimer: Ministerialdirektor Walter Neuer, 2016 gestorben, damals Büroleiter von Kohl und einer seiner engsten Vertrauten. „Es war ja politisch unheimlich heikel damals“, denkt Hartung zurück, denn in Polen gab es bereits die friedliche Revolution und den ersten nicht-kommunistischen Regierungschef, aber noch einen kommunistischen Präsidenten“, so Hartung: „Alles musste diplomatisch fein austariert sein, das hat man überall gespürt.“ Und für Hartung ist auch klar: „Hätte Kohl auch nur die leiseste Ahnung gehabt, was passiert, wäre er nicht geflogen!“

Am Abend des 9. November gibt der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki dann ein Bankett für die Gäste aus Deutschland. „Das übliche Ritual eben, mit Essen und Reden“, so Hartung. Zeitgleich findet in Berlin die legendäre Pressekonferenz statt, wo der SED-Informationssekretär Günter Schabowski die neue Regelung für Reisen ins westliche Ausland für DDR-Bürger bekannt gibt – und dass sie „sofort, unverzüglich“ in Kraft trete.

Delegationsmitglieder ahnungslos

Kohl, so erfährt Hartung später, habe das wohl jemand während des Essens zugeflüstert – die restliche Delegation bekommt nichts mit. Es gibt ja noch kein Twitter, kein WhatsApp. Die Delegationsmitglieder fahren nach dem Bankett also ahnungslos ins Hotel Mariott, sitzen im 40. Stock „bei einem Absacker“, so Hartung, zusammen, als ein Delegationsmitglied erzählt, er habe im Fernsehen gesehen, die Mauer werde geöffnet. „Wir dachten erst, da war zu viel Alkohol im Spiel“, so Hartung heute.

Berlin statt Bonn

Der MVV-Chef geht dann auf sein Zimmer, sitzt vor dem Fernseher, sieht die Bilder von RTL: „Ich war völlig fassungslos, konnte es nicht glauben“, weiß er noch: „Es ist eines der größten historischen Daten des 20. Jahrhunderts, und ich bin so nah dabei“, staunt er rückblickend. Denn nun ist die ganze Reiseplanung durcheinander. Kohl legt zwar noch, wie vorgesehen, einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten nieder, und als Ehrerbietung gegenüber den Polen soll bewusst die ganze deutsche Delegation dabei sein. Kohls Begleitung sucht aber schon hektisch nach Möglichkeiten, den Staatsbesuch zu unterbrechen. „Mein Platz ist jetzt in Bonn“, hat er zu uns gesagt, „aber ihr bleibt alle da, ich komme wieder“, weiß Hartung heute noch genau.

Doch dann fliegt der Bundeskanzler nicht nach Bonn in sein Kanzleramt, sondern nach Berlin, wo der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) einen Auftritt an der Mauer plant. Dorthin zu fliegen, bedeutet für Kohl von Polen aus aber einen Umweg über Hamburg – noch gilt der Vier-Mächte-Status, bundesdeutsche Flugzeuge dürfen nicht in Berlin landen, er muss eine US-Maschine besteigen.

Hinterher habe er erfahren, so Hartung heute, dass Kohl noch von Polen aus mit dem US-Präsidenten Bush, aber auch dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow telefoniert habe, ebenso den europäischen Nachbarn. „Aber die wollten die deutsche Einheit nicht, das wurde uns allen schnell klar“, sagt er: „Aber Kohl hat es geschafft, die Widerstände zu überwinden, das ist seine historische Leistung!“

Der Bundeskanzler kommt tatsächlich zurück nach Warschau, die Gespräche finden statt. Und auch wenn die Reise für ihn persönlich „ungeheuer beeindruckend war“, habe sie sich zudem für Mannheim stark rentiert, betont Hartung: Die MVV bekam den über die Weltbank mit 100 Millionen Dollar finanzierten Auftrag, das Warschauer Fernwärmenetz zu modernisieren. Dem folgen noch viele weitere Aufträge aus dem damaligen Ostblock.

Roland Hartung



  • Der 1936 in Mannheim geborene, in Käfertal aufgewachsene Roland Hartung war von 1964 bis 1988 Rechtsanwalt.
  • Er kam 1962 in den Käfertaler Bezirksbeirat und wurde 1965 in den Gemeinderat gewählt, wo er über 13 Jahre die CDU-Fraktion führte.
  • Drei Mal – in den Jahren 1972, 1980 und 1983 – kandidierte Roland Hartung für die CDU bei der Oberbürgermeister-Wahl.
  • Am 1. Juli 1988 wechselte er in den Vorstand der MVV. Hartung führte das Unternehmen an die Börse, wurde 2001 als „Energiemanager des Jahres“ geehrt und ging am 30. September 2003 als Vorstandsvorsitzender in den Ruhestand.
  • Im Ruhestand engagiert er sich auf anderen Feldern – unter anderem im Verwaltungsrat der Abendakademie und im Förderverein für das Hospiz der Caritas. pwr

Redaktion Chefreporter

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