Mannheim. Herr Kohl, Herr Majer, in der Corona-Pandemie hat die Gesundheits- und Medizinbranche massiv an Bedeutung gewonnen. Haben Gründungen in diesem Bereich zugenommen?
Stefan Kohl: Gesundheits-Start-ups gab es schon vor der Pandemie wie Sand am Meer. Vor allem, wenn es um App-Entwicklungen geht. Ob gesünder essen, Fitness am Arbeitsplatz oder das Überwachen der Tabletteneinnahme – das lässt sich leicht programmieren, da gibt es viele Ideen.
Wie erfolgversprechend sind solche Gesundheitsapps aus wirtschaftlicher Sicht?
Kohl: Jedes Start-up, jeder App-Entwickler muss wissen, wer für ihren Service bezahlt. Das können Krankenkassen sein oder die Nutzer, die bereit sind, für die App zu bezahlen. Bei einigen App-Entwicklungen wird das klappen, andere werden aber wieder vom Markt verschwinden.
Marco Majer: Da die Eintrittsbarrieren dank der Digitalisierung sehr niedrig sind, gibt es in diesem Bereich sehr viele Neugründungen. Das heißt aber auch, dass die Gefahr des Scheiterns groß ist, weil der Wettbewerb so stark ist. Eine Krankenkasse macht vielleicht Rahmenverträge mit zwei oder drei App-Erfindern zu einem Behandlungsbereich – die können dann auch schnell einen hohen Marktanteil erreichen. Die anderen haben es dann in dieser Nische viel schwerer.
Also sind Apps der große Trend im Gesundheitsbereich?
Kohl: Nicht nur. Es gibt auch viele neue digitale Anwendungen, die bei der Verwaltungslogistik helfen. Zum Beispiel beim Management von Krankenhausabläufen oder bei der Verwaltung von Patientendaten. Selbst beim Nachbauen von Organen kommt man ohne digitale Unterstützung nicht aus.
Wie gut kommen Gesundheits-Start-ups an Geld?
Majer: Da hat sich in Deutschland vieles verbessert. Gerade in der ersten Gründungsphase kommen Start-ups mittlerweile leichter an Kapital. Schwierig wird es später, wenn sie viel Geld für die nächsten Wachstumsschritte brauchen. Dann sind deutsche Investoren noch immer zurückhaltend, beim Wagnis-Kapital sind Investoren etwa in den USA und Asien viel mutiger. Start-ups können bis zu fünf Finanzierungsrunden benötigen. Generell beobachten wir aber: Die wirklich guten, sehr innovativen Start-ups kommen auch hier an ihr Geld.
Netzwerk aus der Region
Das 5-HT Digital Hub Chemistry & Health Ludwigshafen/Mannheim berät knapp 200 Start-ups in den Bereichen digitale Chemie und digitale Gesundheit und führt sie mit Unternehmen zusammen. Es wird neben Fördergeldern von der Wirtschaft finanziert. Geschäftsführer ist Stefan Kohl, Co-Geschäftsführer ist Dr. Frank Funke.
Stefan Kohl ist studierter Wirtschaftsinformatiker. Er arbeitete unter anderem für SAP in Walldorf. Im Sommer 2018 wechselte er als Gründungsgeschäftsführer zur Digital Hub Rhein-Neckar GmbH, die als Trägergesellschaft den Digital Hub Mannheim/Ludwigshafen für Chemie und Gesundheit betreibt.
Marco Majer studierte Business Innovation. Er promoviert aktuell in London zum Thema „Startup-Corporate Collaboration“. Nach Stationen bei der Berner Group, PwC und BASF ist Majer seit 2018 beim 5-HT Digital Hub.
Wie hat sich die Corona-Krise in der Branche ausgewirkt?
Majer: Die Pandemie hat doch gezeigt: Wir brauchen digitale Lösungen, um unser Gesundheitssystem weiterzubringen. Dementsprechend hat die Corona-Krise Start-ups in der Chemie und Gesundheitsbranche einen Schub gegeben. Da ist die Nachfrage deutlich angestiegen, weil der Leidensdruck, das dringende Bedürfnis nach Innovationen so hoch ist, dass auch etablierte Akteure sich bei Start-ups Hilfe holen. Das lässt sich mit der Autobranche vergleichen. Vor einigen Jahren waren Innovationen für E-Autos noch nicht so wichtig, jetzt braucht die Industrie sie zum Überleben.
Wo zeigt sich das in der Gesundheitsbranche?
Majer: Durch Corona haben zum Beispiel viele Patienten Angst, aufgrund einer möglichen Ansteckungsgefahr, zum Arzt zu gehen. Telemedizin ist plötzlich ein großes Thema. Dafür braucht es von Start-ups entwickelte digitale Tools, um die Sprechstunde ins Wohnzimmer zu bringen. Generell bieten digitale Lösungen besonders in der Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten enormes Potenzial. Zudem ist die gesellschaftliche Akzeptanz für digitale Lösungen gestiegen.
Kohl: Die Pandemie hat auch Defizite offengelegt. Zum Beispiel, dass Gesundheitsämter nach dem Wochenende lange brauchen, um ihre Daten zu übermitteln. Es ist ja offensichtlich, dass sich einige Prozesse in der Corona-Krise durch digitale Lösungen vereinfachen ließen. Und nicht nur für die Gesundheitsbranche ist der Breitband-Ausbau ein entscheidender Faktor. Corona hat die Mängel in der digitalen Infrastruktur aufgedeckt. Wir wissen jetzt alle, dass Deutschland sich hier stark verbessern muss.
Welchen Einfluss hat der Erfolg von Impfstoff-Entwicklern wie Biontech oder Curevac – beides Start-up aus der Biotechnologie?
Majer: Auf jeden Fall bringen sie ein viel positiveres Image für Innovationen, für Biotechnologie und für die Wissenschaft überhaupt. Und es ist ganz wichtig, dass wir mit Biontech und Curevac endlich auch wieder in Deutschland Vorreiter hervorgebracht haben, die in die ganze Welt wirken. Diese Firmen bekommen ja viel öffentliche Aufmerksamkeit. Für die Gründerszene ist es total motivierend zu sehen, dass es funktionieren kann.
Der Gesundheitssektor gilt als sehr bürokratisch – ein Problem für junge Unternehmen?
Kohl: Deutschland beziehungsweise die EU haben zum Beispiel sehr strenge Vorgaben im Datenschutz. Bei Anwendungen, die kein Medizinprodukt darstellen, haben es Unternehmen, die außerhalb der EU gegründet wurden und gewachsen sind, viel leichter, weil dort die Vorgaben meist deutlich laxer sind und man einfach mal entwickelt. Wenn diese dann als Marktführer den deutschen Markt betreten, haben es europäische Lösungen, die hohe Datenschutzanforderungen erfüllen, oft schwer.
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