Kriminalität

Verdacht auf sexuellen Missbrauch: Wenn die Psychotherapie zur Falle wird

Nach Schätzungen gibt es jedes Jahr 1000 Fälle, in denen Psychotherapeuten Patienten sexuell missbrauchen. Hier erzählt eine Frau ihre Geschichte

Von 
Stefanie Ball
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Weil in der Psychotherapie Therapeut und Patient hinter geschlossenen Türen sitzen, gibt es oft keine Beweise. © dpa

Mannheim/Tübingen. Das letzte Gespräch habe sieben Minuten gedauert. Seine Frau habe ihm gedroht, ihn aus dem Haus zu werfen, sein Ruf als Arzt stehe auf dem Spiel, überhaupt sein ganzes Leben, erzählt Katharina R. „Ich muss das beenden, du kommst gut alleine klar.“ Sie dürfe ihn auf keinen Fall mehr in der Klinik aufsuchen. Dann habe Thomas B. ihr gesagt, sie solle den Besprechungsraum verlassen. Doch sie kann nicht, sie bleibt einfach sitzen, und so sei er gegangen. Die Tür habe er offen stehen gelassen.

Erneute Begegnung vor dem Amtsgericht in Tübingen

Zweieinhalb Jahre ist das her. Am 9. April werden sich Thomas B. und Katharina R. (um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu schützen, wurden beide Namen von der Redaktion geändert) wieder begegnen. Vor dem Amtsgericht Tübingen. Die 34-Jährige hat den Arzt und Psychotherapeuten wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie angezeigt. Laut Paragraf 174c, Absatz 2, Strafgesetzbuch macht sich strafbar, wer als Psychotherapeut während eines Behandlungsverhältnisses sexuelle Handlungen an einer Patientin, an einem Patienten vornimmt. Irrelevant sei, so schreibt es Katharina R.s Anwalt Christian Laue in der Begründung zur Strafanzeige, dass die Verletzte, also Katharina R., in die sexuellen Handlungen eingewilligt habe. Mögliches Strafmaß: bis zu fünf Jahre Gefängnis.

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Katharina R. ist krank, sie leidet unter einer schweren Persönlichkeitsstörung. Als Kind ist sie missbraucht worden, sie hat Suizidgedanken, verletzt sich selbst. Seit 2014 ist sie deshalb immer wieder Patientin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen. Katharina R. sagt, sie sei eine Drehtürpatientin gewesen. Auf Phasen zu Hause folgen Aufenthalte in der Klinik, sie wird entlassen und wieder eingeliefert oder bittet selbst um Aufnahme. Ein Teufelskreis.

Im Juli 2020 kommt es zu einer notfallmäßigen Krise, der Krankenwagen bringt sie ins Uniklinikum. Das Sorgerecht für zwei ihrer drei Kinder hatte sie damals verloren, und auch das mittlere Kind lebte zu dem Zeitpunkt nicht bei ihr.

Katharina R. sagt, sie sei resigniert gewesen, sie habe Hilfe gewollt, aber nicht geglaubt, dass man ihr in der Klinik helfen kann. „Was sollte der 60. Therapeut anders machen als der 59.?“ Doch da habe plötzlich Thomas B. in ihrem Zimmer gestanden. Groß, schlank, sportlich, älter als die meisten anderen Ärzte, die sie von der Station gekannt habe. Ob er sich kurz vorstellen dürfe? Er sei im Urlaub gewesen und habe Termine frei, wenn sie wolle, solle sie sich melden.

Ab da ist Thomas B. ihr Psychotherapeut. Erst in der Klinik, nach ihrer Entlassung drei Wochen später, setzen sie die Sitzungen ambulant fort. Er habe ihr erzählt, dass er eine zweite Facharztausbildung mache und dafür 200 Therapiestunden als Nachweis benötige. Über die Bezahlung müsse sie sich keine Gedanken machen. Er habe gesagt: „Natürlich nur, wenn Sie möchten, es ist ok, wenn Sie nein sagen.“ Doch Katharina R. möchte, für sie ist Thomas B. ein Geschenk des Himmels.

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Bei Spaziergängen auf der Liegebank Platz genommen

Zuerst hätten die Gespräche in seinem Behandlungszimmer in der Klinik stattgefunden. Er habe sie gebeten, am späteren Nachmittag zu kommen, da seien sie ungestört. Dann hätten sie begonnen, nach den Sitzungen Spaziergänge zu unternehmen, stundenlang. Auf einer Wiese habe eine Liegebank gestanden, Thomas B. habe sich gesetzt, sie selbst sei ganz an den Rand gerückt. „Ich wäre fast runtergefallen“, sagt sie. Sie nennt ihn Herrn B. „Wir haben uns gesiezt, es war alles sehr distanziert.“ In diesem Moment habe sie sich vorgestellt, seine Hand zu nehmen, der Mann auf der Bank ist auf einmal der Vater, den sie sich immer gewünscht habe, zum Anlehnen und Festhalten. In einer E-Mail habe sie ihm das später geschrieben. Thomas B. habe geantwortet, er verstehe den Wunsch, sie seien auf einem guten Weg.

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Nachdem sie einmal besonders aufgelöst in eine der Sitzungen gekommen sei, sagt er: „Kommen Sie mit zu mir, wir trinken einen Absacker, damit sie etwas Gutes erleben.“ Dies entspreche der klassischen Verhaltenstherapie. Sie habe gestutzt. Absacker? Es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich gewundert habe. Thomas B. hätte bei den Therapiegesprächen schnell begonnen, von sich und seiner Familie zu erzählen. Er habe auch Sätze gesagt wie: „Ich habe keine Erwartungen von Ihnen an meine Männlichkeit wahrgenommen.“ Katharina R. sagt, sie sei sprachlos gewesen, natürlich sei er ein Mann, aber sie habe ihn nicht als solchen wahrgenommen. „Er war mein Gott in Weiß.“

Staatsanwaltschaft wertet Tat als Vergewaltigung

Diesen Gott will sie nicht verlieren. Außerdem hatte ihr Thomas B. versprochen, ein Gutachten zu schreiben, damit sie das Sorgerecht für ihre Kinder wiederbekomme. Sie müssten nur ein oder zwei Jahre intensiv arbeiten, dann bescheinige er ihr, dass sie erziehungsfähig sei. Also fasst sie sich ein Herz und fährt nach dem Therapiegespräch in der Klinik zu ihm in die Wohnung. In seinem Wohnzimmer steht ein blaues Sofa, dort sitzt sie, während er für sie beide kocht. Sie hätten Rotwein getrunken, den sie nicht mochte, und sie habe gedacht: „Ich passe nicht in das Bild“.

Sie hätten sich nun immer in seiner Wohnung getroffen, manchmal auch in ihrer. An einem Abend Anfang Oktober habe sie während eines Gesprächs seine Hand in ihre Hand genommen und diese dann auf ihr Knie geführt. Sie habe Trost gesucht. Was wenig später passiert, wertet die Staatsanwaltschaft nach Aussage von Katharina R. als Vergewaltigung. Sie habe mehrmals gesagt, dass sie nicht wolle, dass sie ihre Periode habe. Sie habe ihren Kopf zur Seite gedreht, als er ihr einen Zungenkuss habe geben wollen. Er habe sie ins Schlafzimmer gezogen, sie ausgekleidet, sei in sie eingedrungen. Nach dem Sex sei er eingeschlafen. Sie habe neben ihm gelegen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich zuzudecken, obwohl sie gefroren habe. Erst am nächsten Morgen sei sie nach Hause gefahren. „Von da an haben wir uns geduzt.“

Anfang 2021 – Thomas B. war zuvor mehrere Wochen wegen einer längeren Krankschreibung nicht in der Klinik gewesen – habe er behauptet, seine Frau ahne etwas, sie könnten sich nicht mehr in seiner Wohnung treffen, die Gespräche würden wieder in seinem Behandlungszimmer in der Psychiatrie-Abteilung stattfinden. 30 Minuten Gespräch, dann Sex auf der grünen Liege, so erzählt es Katharina R.. Sie habe gehört, wie draußen vor der Tür Menschen vorbeilaufen, wie Schlüssel in Schlössern gedreht werden. Er habe gewollt, dass sie ihn oral befriedige, das erste Mal habe es nicht geklappt, sie sei aus dem Zimmer zu den Patiententoiletten im Untergeschoss gerannt und habe sich übergeben. Im Flur sei ihr der Chefarzt begegnet, er habe gesehen, dass sie weine. „Aber das ist ja nichts Besonderes auf einer Psychiatrie, da weint ja ständig jemand.“

Im März sei sie schwanger geworden. Thomas B. habe gewollt, dass sie das Kind abtreibt. Sie kauft einen Strampler, zeigt ihm diesen und sagt: „Wie süß“. Er droht, wenn sie nicht abtreibt, könne er das Gutachten nicht schreiben, dann sehe sie ihre Kinder nie wieder. Der operative Abbruch findet in einer Klinik in Reutlingen statt.

Fortan habe sich Thomas B. reserviert gezeigt, Anfang Juni 2021 sei der Kontakt ganz abgebrochen. „Er hatte mich bei SMS und auf Whatsapp blockiert.“ Sie beschließt, ihn zur Rede zu stellen und fährt zur Klinik.

Sie sprechen sieben Minuten miteinander. Es ist das letzte Gespräch.

Das Uniklinikum Tübingen will sich zu den Vorwürfen nicht äußern

Die Universitätsklinik Tübingen, in dessen Behandlungsräumen ein großer Teil der vorgeworfenen Missbrauchstaten – die Strafanzeige listet mehr als 50 auf – stattgefunden haben soll, will sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Auch die Anwältin von Thomas B., Birgit Scheja, lehnt eine Stellungnahme ab: „Wir machen bis zu dem Verfahren keine Angaben.“

Freie Autorin

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