Mannheim. Sandra sitzt an einem Tisch in der Mannheimer Beratungsstelle Amalie für Prostituierte und erzählt von ihrem schwierigen Leben. Gefasst und ohne Selbstmitleid schildert die Jamaikanerin, die ihren wahren Namen nicht preisgibt, ihr Abgleiten in die Prostitution. An dessen Anfang habe der von einer vermeintlichen Freundin organisierte Besuch eines vage benannten Ortes gestanden, an dem man „Spaß“ haben könne.
„Ich bin ins kalte Wasser geschmissen worden“, sagt sie. Der Ort entpuppte sich als Saunaclub – ein luxuriöses Bordell. Für die von der anderen Frau ausgelegten Fahrkarten und Eintrittsgelder fehlten ihr die Mittel. Um die Kosten erstatten zu können, begann sie am selben Abend zu arbeiten. „Zudem mussten noch ein Schlafplatz und Steuern bezahlt werden.“ Sie habe damals niemanden gehabt, der ihr den rechten Weg hätte weisen können.
Erinnerungen an Gewalt
Die zierliche Frau in weißem Pullover, schwarzer Hose und Sportschuhen berichtet von einer abgebrochenen Lehre in der Altenpflege und ihrem Job bei einer Müllfirma, den sie für die Prostitution aufgab. Nur an einem Punkt kann die 36-Jährige ihre Gefühle nicht unterdrücken – die schmerzliche Erinnerung an Gewalt im nächsten Umkreis.
Denn wie viele andere Prostituierte hat sie in der Kindheit sexuellen Missbrauch durch Angehörige erlebt. Der habe kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland angefangen und mit ihrem Auszug geendet. „Er hat mich als Sexobjekt benutzt.“ Astrid Fehrenbach, Leiterin der Anlaufstelle, sagt, solche Schicksale seien bei Prostituierten nicht selten.
Einstieg leichter als Ausstieg
Laut einer Hamburger Studie fanden sich bei 83 Prozent der befragten Prostituierten in der Kindheit Trauma Erfahrungen, darunter 48 Prozent sexuelle Missbrauchsfälle. Solche Erlebnisse beeinträchtigen das Selbstbewusstsein. Sandra: „Ich hatte keine Achtung vor mir selbst.“
In die Prostitution hineinzukommen sei sehr viel leichter als aus ihr heraus, so Fehrenbach. Um eine reguläre Arbeit aufnehmen zu können, brauche es eine sichere Wohnung. Viele Betroffene wohnten aber bei Freunden oder am Arbeitsplatz im Bordell und könnten keine Meldeadresse nachweisen, die ihnen den Leistungsbezug bei Behörden ermöglichen würde. Den meisten Frauen aus Nicht-EU-Ländern wie Sandra fehlten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse. „Der Ausstieg ist ein ganz komplizierter, oft jahrelanger Weg, mit einigen Aufs und Abs.“
Sandra kann ein Lied davon singen: „Ich kämpfe seit 15 Jahren mit den Behörden.“ Aber jetzt stehe dank des Einsatzes von Amalie einer Arbeitsaufnahme nichts mehr entgegen. Mehr als die Hälfte aller Prostituierten wolle aussteigen, schätzt Theologin Fehrenbach. Wenige schafften es. „Nur wenn man motiviert ist und sich dahinter klemmt, kann man Erfolg haben.“ Amalie habe von 2021 bis Ende 2022 18 Frauen und in diesem Jahr sechs auf dem Weg begleitet.
Mangelnde Sprachkenntnisse erschweren Ausstieg
Das Statistische Bundesamt zählte 28 280 gemeldete Prostituierte am Jahresende 2022. Das waren 19 Prozent mehr als im Vorjahr, in dem teils noch Corona-Auflagen galten. Ende 2019 – vor der Pandemie – waren 40 370 Prostituierte gemeldet.
Sandra hat den Absprung geschafft, auch weil sie anders als das Gros der Prostituierten fließend Deutsch spricht. Für die 80 Prozent der Frauen aus Rumänien und Bulgarien ohne Sprachkenntnisse ist der Ausstieg den Angaben Fehrenbachs nach noch beschwerlicher.
Seit 2002 ist Prostitution in Deutschland nicht mehr sittenwidrig, sondern gilt als normales Gewerbe. Ein Prostituiertenschutzgesetz schreibt seit 2017 vor, dass Bordelle eine Betriebserlaubnis benötigen. Prostituierte sind verpflichtet, ihre Tätigkeit anzumelden und zur Gesundheitsberatung zu gehen.
Amalie bietet seit zehn Jahren psychosoziale Beratung, Begleitung, medizinische Grundversorgung und Ausstiegshilfen an. Die Beratungsstelle wird finanziert durch die Stadt Mannheim, das Sozialministerium und das Diakonische Werk.
Diskussion um Verbot
Die Missbrauchserfahrung hat in Sandras Psyche tiefe Spuren hinterlassen. „Sex war für mich eine Verletzung.“ Sie habe ihren meist älteren Kunden quasi heimzahlen wollen, was ihr zu Hause angetan worden war. „Irgendjemand musste zahlen.“ Dann war der Wunsch nach einem normalen Leben so groß, dass der Absprung gelang. „Das normale Dasein hat mich gerufen.“
Vom Vorschlag etwa der CSU-Politikerin Dorothee Bär, das Gewerbe durch ein Sexkaufverbot einzudämmen, hält sie nichts: „Das ist der größte Schrott.“ Das aus Skandinavien stammende Modell verbindet die Bestrafung der Freier mit Ausstiegsprogrammen für Frauen. Nach Ansicht von Fehrenbach verstößt Prostitution gegen die Menschenwürde und gehört abgeschafft. Studien belegten, dass in Schweden die Prostitution samt Dunkelfeld weniger geworden und die gesellschaftliche Akzeptanz für Prostitution geschwunden sei. Deutschland dürfe nicht weiter als Puff Europas gelten.
Sandra hingegen ist überzeugt, dass sich die Nachfrage nach Sex nicht verringern, sondern nur in den Untergrund verlagern werde. Das würde den Frauen den Ausstieg noch erschweren. Wichtiger sei, dass staatliche Kontrolleure in den Bordellen auf Einhalten von Standards achteten wie getrennte sanitäre Anlagen für Prostituierte und Freier, separate Wohnbereiche für Prostituierte und ein Notrufsystem.
Sie hat eine Stelle in einem Seniorenheim bekommen. Sie genießt die Akzeptanz und Freundlichkeit, die die Bewohner ihr entgegenbringen. „Das ist ein schöner Kontrast zu dem, was ich zuvor erlebt habe.“ dpa
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