Mannheim. Als im Dezember vor 40 Jahren der gemeinnützige Verein Notruf als Anlaufstelle für sexuell misshandelte Frauen und Mädchen gegründet wurde, galt solcherart Gewalt vielfach noch als Hirngespinst von Feministinnen. Bezeichnenderweise haben Studentinnen der Mannheimer Hochschule für Sozialwesen sieben Jahre lang ehrenamtlich gearbeitet, ehe das Tabuthema offen diskutiert und dem Notruf ein hauptamtliches Beratungsteam zuerkannt wurde.
Seit 1983 ist Martina Schwarz dabei - zunächst als ehrenamtliche Pionierin, dann über drei Jahrzehnte als Leiterin und seit ihrer Pensionierung als Vorsitzende des Trägervereins. Sie hat viele „unglaublich dynamische Entwicklungen“ miterlebt. In jener Zeit, als der Notruf beim damals jungen Gesundheitstreffpunkt in der Schimperstraße ein Kämmerchen als Domizil nutzte, hatte er vor allem vergewaltigte Frauen im Blick.
Bei sexueller Gewalt ist es oft „Tatort Wohnung“
Doch schon bald zeigte sich: Auch Kinder und Jugendliche, die Opfer sexueller Gewalt werden, brauchen dringend ein Angebot. Dass häufig (Stief-)Väter, Onkel, ja Großväter die Täter sind und eher selten hinterm Busch lauernde fremde Männer - diese Erkenntnis sollte aufwühlen. Der „Tatort Wohnung“ erschütterte das traditionelle Familienbild. Zu den sich herauskristallisierenden Erfahrungstatsachen gehörte auch, dass als Kind erlebter sexueller Missbrauch das ganze Leben zu prägen vermag - wenn ein Trauma unbearbeitet bleibt. Üble Anmache am Arbeitsplatz, insbesondere durch mächtige Vorgesetzte, gehörte vor vier Jahrzehnten zu den „Darüber spricht man nicht“-Themen. Dass es einmal eine „Me too“-Bewegung geben würde - „nein, das hätte sich in den Anfangsjahren niemand vorstellen können“, blickt Martina Schwarz zurück.
Vor einigen Wochen hat das Bundeskriminalamt seinen ersten Lagebericht zu Sexualdelikten an Minderjährigen vorgelegt. Allerdings spiegeln die Zahlen nur das Hellfeld. „Das wahre Ausmaß ist weit höher“ , betonen Christina Klein und Claudia Wichmann, die den Notruf als Doppelspitze leiten. Im vergangenen Jahr hat die Polizei bundesweit 17 200 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren als Opfer sexualisierter Gewalt erfasst - in jedem siebten Fall lag das Alter unter sechs Jahren. Dass in der Statistik lediglich 1211 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren auftauchen, kündet davon, dass sich diese Altersgruppe scheut, Anzeige zu erstatten. Den BKA-Bericht kommentierte Bundesinnenministerin Nancy Faeser: „Kein Täter darf sich sicher fühlen.“ Das Notruf-Team kontert: „Ein Bruchteil der Straftaten sexualisierter Gewalt wird angezeigt und noch weniger führen zur Verurteilung. Das schreckt Täter nicht ab. Im Gegenteil.“
Betroffenen von sexuellem Missbrauch wird oft misstraut
Auch wenn sexueller Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen nicht mehr totgeschwiegen wird, stellen spezialisierte Beratungsstellen fest: Betroffenen Mädchen und Frauen wird oftmals misstraut. Dass dies ein generelles Phänomen ist, zeigt der englische Begriff „Rape Culture“, der eine Gesellschaft meint, in der sexuelle Gewalt zwar weit verbreitet ist, aber (verharmlosend) toleriert wird.
Diese ernst zu nehmen, bedeutet aber nicht, Betroffene gleichzeitig in eine Opferrolle mit stereotypen Bildern zu drängen. In einem Arbeitspapier des Notrufs heißt es: „Gewalt darf nicht zum persönlichen Stigma werden - sie ist erlebtes Unrecht.“ Und sich daraus entwickelnde Folgen, ob Ängste, negative Selbstwahrnehmung oder auch Abhängigkeiten, seien „ganz normale Reaktionen“.
Heutige Herausforderungen: Porno übers Handy
Dass die Schule ein Ort ist, „an dem sexualisierte Übergriffe stattfinden und per Handy pornografische Darstellungen herumgereicht werden“, sieht das Fachteam als riesige Herausforderung. In Pausenhöfen werde inzwischen sogar gefilmter Missbrauch von Kindern verbreitet. „Unsägliche Bilder machen die Runde“, berichtet Psychologin Claudia Wichmann. Und so manch ein Mobbing-Fall beginnt digital: Beispielsweise hat eine verliebte Schülerin ihrem Freund auf dessen Drängen hin freizügige Fotos geschickt. Als diese im Netz auftauchten, wurde das Mädchen in sozialen Medien als „Schlampe“ beschimpft - während der Vertrauensbruch des Mitschülers, der die privaten Bilder hochgeladen hatte, als Kavaliersdelikt durchging.
Verein Notruf: Vielfältige und vertrauliche Hilfe
- „Notruf“- Fachkräfte beraten jährlich um die 190 Mädchen, Jugendliche und Frauen, außerdem 80 Bezugspersonen und 180 Fachkräfte anderer Einrichtungen. Bei Bedarf ist therapeutische Unterstützung möglich.
- Zu dem kostenfreien wie vertraulichen Angebot gehören auch Infos über juristische Möglichkeiten, Begleitung zu polizeilichen Vernehmungen oder Gerichtsverhandlungen, zudem Vorträge.
- Die Psychologische Beratungsstelle hat ihren Sitz in O 6, 9. Telefon: 0621/ 10033, E-Mail: team@maedchennotruf.de
- Spendenkonto des Fördervereins: Sparkasse Rhein Neckar Nord, IBAN DE20 6705 0505 0030 1222 16.
Im Bereich „Cyber-Grooming“ (was für sexuelle Anbahnung im Internet steht) hält das „Notruf“-Team das Erarbeiten präventiver wie flächendeckender Schutzkonzepte für „zwingend“ notwendig. Das setze allerdings personelle Kapazitäten und kontinuierliche Fortbildungen voraus. Umso erfreulicher, dass der Gemeinderat einer Zuschuss-Erhöhung von 57 000 Euro zugestimmt hat.
Sorgen bereitet, dass die Zahl von vergewaltigten Jugendlichen und Frauen, die sich beim „Notruf“ melden, kontinuierlich ansteigt: von 49 Vorsprachen 2019 bis zu 80 im vergangenen Jahr. Das Team formuliert dazu zwei Thesen: Die Gewalt gegen (junge) Frauen nimmt zu. Außerdem ermutige die „Me too“-Bewegung, sich Hilfe zu holen.
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