Präventionstag in Mannheim

Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen - das sagt eine Expertin

Julia von Weiler spricht über ihr Projekt „#UNDDU?“, mit dem sie Jugendliche vor sexueller Gewalt unter Gleichaltrigen schützen will. Die digitale Kommunikation habe das Thema fundamental verändert, sagt sie

Von 
Valerie Gerards
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African-American girl is at home by the window. She is holding a mobile phone © istock

Mannheim. Der Deutsche Präventionstag findet am 12. und 13. Juni im Mannheimer Rosengarten statt. Die Psychologin Julia von Weiler stellt dort ihr Projekt „#UNDDU? Mach Dich stark. Gegen sexuelle Gewalt unter Jugendlichen“ vor. Es soll Fachkräfte unterstützen, zum Thema aufzuklären und bei Vorfällen einzugreifen.

Frau von Weiler, Sie arbeiten in Ihrem Projekt mit drei Zielgruppen: den Opfern, den Tätern und denjenigen, die von einem Vorfall irgendwie mitbekommen haben. Warum?

Julia von Weiler: Der Schutz vor sexualisierter Gewalt kann nicht alleine Aufgabe der Jugendlichen sein. Natürlich müssen wir Jugendliche befähigen, sich zu schützen. Aber wir müssen vor allem die Erwachsenen im Umfeld sensibilisieren und befähigen, zu diesem Thema ansprechbar zu sein.

Wie gehen Sie vor?

Von Weiler: Wir haben unterschiedliche Workshop-Formate für Eltern, haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte und die Jugendlichen selbst entwickelt. Unser #UNDDU-Portal und unsere App „#UNDDU? Fachkräfte“ haben wir außerdem vollständig für alle Zielgruppen in deutsche Gebärdensprache übersetzt. Darauf sind wir sehr stolz, weil wir die einzigen sind, die das bisher jemals in dieser Ausführlichkeit gemacht haben.

Zur Person: Julia von Weiler

 

  • Julia von Weiler studierte Psychologie an der New York University und der Freien Universität Berlin.
  • Sie arbeitet seit 1991 zum Thema „sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ in unterschiedlichen ambulanten und stationären Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe.
  • Seit 2003 ist sie Vorsitzende der KinderschutzorganisationInnocence in Danger“.
  • 2007 übernahm sie die psychologische Fachleitung bei der „Kind in Düsseldorf gGmbH, einer stationären Facheinrichtung für Diagnostik und Therapie für gewaltgeschädigte Kinder.
  • Sie ist Autorin diverser Fachartikel sowie des Elternratgebers „Im Netz. Kinder vor sexueller Gewalt schützen“ und immer wieder Gast in unterschiedlichen Fernseh-Talk-Formaten. vg

Ihr Verein sitzt in Berlin. Wie erreichen Sie die betroffenen Gruppen auf breiter Fläche?

Von Weiler: Zum Einen indem wir viel reisen und digitale Veranstaltungen anbieten. Zum Anderen haben wir eine „Train-the-Trainer“ Ausbildung entwickelt. In diesem Format bilden wir haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte verschiedener Institutionen aus. Diese Trainer schulen in ihrer Region, Institution oder Organisation weitere Fachkräfte und führen Jugendworkshops durch. Unser Hauptziel ist es, so viele Menschen wie möglich zu befähigen, die Inhalte umzusetzen. Denn wir könnten gar nicht so viele Mitarbeiter bei „Innocence in Danger“ werden, als dass wir alle Jugendlichen in Deutschland erreichen können.

Wie sieht das konkret aus?

Von Weiler: Es melden sich zum Beispiel Kollegien, damit sie in der Schule selbst adäquate Aufklärungs- und Interventionsangebote machen können. Oder Vereine, aber auch Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die meiste Nachhaltigkeit erreichen wir natürlich, wenn wir Multiplikatoren ausbilden, wenn wir also etwa ein Kollegium oder Team fortbilden. Für #UNDDU? haben wir ein Baukastenprinzip entwickelt, das dann jede Institution für ihre Zielgruppe passend anwenden kann, zum Beispiel in Sportvereinen, Jugendverbänden von Rettungsorganisationen wie dem Deutschen Roten Kreuz oder der Freiwilligen Feuerwehr.

Der Präventionstag

 

  • Das Projekt #UNDDU stellt sich beim Deutschen Präventionstag vor. Am 12. und 13. Juni findet der im Rosengarten statt. Er ist der weltgrößte seiner Art. Gastgeber sind die Stadt Mannheim und das Land Baden-Württemberg.
  • Teilnehmen können alle ab 14 Jahren. Ein Ticket für beide Tage kostet 245 Euro (vom 1. April bis 15. Mai) und 255 Euro ab dem 16. Mai. Damit gibt es Zugang zu allen Veranstaltungen inklusive einer Abendveranstaltung auf dem Buga-Gelände.
  • Am zweiten Kongresstag (Publikumstag) sind die Ausstellung, Panel-Diskussionen und das Bühnenprogramm für Bürger kostenlos zugänglich.
  • Das vollständige Programm gibt es hier lia

Finden die Übergriffe nicht eher im Privaten statt, wenn Jugendliche digitale Medien nutzen?

Von Weiler: Die meisten Jugendlichen sind von sexualisierter Gewalt durch andere Jugendliche in der Schule, im öffentlichen Raum oder im Internet betroffen. Und die meisten jugendlichen Täterinnen und Täter sind den jugendlichen Betroffenen bekannt. Sie stammen entweder aus dem Freundeskreis oder sind Ex-Partnerinnen oder Ex-Partner. Sie haben vollkommen Recht, das Nahfeld ist das Entscheidende. Deshalb war es uns so wichtig, so viele Institutionen wie möglich zu erreichen, in denen Jugendliche, abgesehen von der Schule, organisiert sind. Denn je mehr Menschen um die Jugendlichen herum aufmerksam sind, umso besser finden Betroffene Hilfe.

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Welche Rolle spielt die Handynutzung bei der sexualisierten Gewalt?

Von Weiler: Die digitale Kommunikation hat sexualisierte Gewalt fundamental verändert. Es wird zum Beispiel eine Anzüglichkeit im Umkleideraum gesagt. Dann wird ein Foto gemacht, geteilt und kommt so in den digitalen Raum, wo es sich unendlich verbreitet. Das verändert die Dynamik ganz entscheidend für die Betroffenen.

Was können Betroffene, Eltern oder Lehrer tun, wenn so etwas passiert ist?

Von Weiler: Der wichtigste Schritt ist es, sich jemandem anzuvertrauen. Viele scheuen sich aber davor. Für solche Fälle gibt es das Hilfetelefon Missbrauch. Dort können Sie sich kostenlos und anonym von Fachleuten beraten lassen, erstmal schildern, was los war, sich sortieren und überlegen, was die nächsten Schritte sein können. Das Hilfetelefon richtet sich auch an die Betroffenen, vor allem aber an Personen, die etwas beobachtet haben und unsicher sind, was zu tun ist. Die Nummer lautet übrigens 0800-22 55 530. Sie können sich auch online beraten lassen: https://nina-info.de/online-beratung

Von wie vielen Fällen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sprechen wir eigentlich?

Von Weiler: Wir wissen, dass sich etwa nur ein Drittel der Betroffenen überhaupt jemals irgendjemandem mitteilt. Laut der MIKaDo Studie von 2015 werden nur ein Prozent aller Fälle der Strafverfolgung oder den Jugendämtern bekannt. In der Kriminalstatistik sind 14 000 bis 16 000 Betroffene geführt. Die Weltgesundheitsorganisation geht von einer Million betroffener Kinder und Jugendlicher in Deutschland pro Jahr aus. Das sind ein bis zwei betroffene Kinder pro Klassenzimmer.

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Sie haben auch ein Modul und eine Fortbildung zum Thema „Loverboy Strategie“ entwickelt. Was hat es damit auf sich?

Von Weiler: Die Loverboys sind oft jugendliche oder sehr junge Männer, die gezielt auf jugendliche Mädchen und junge Frauen angesetzt werden. Die Männer werden von Ausbeutungsringen - wir reden hier wirklich von organisierter Kriminalität, Menschenhandel und Zwangsprostitution von Minderjährigen - losgeschickt, um junge Frauen und Jugendliche in sich verliebt zu machen und sie dann in die Prostitution zu zwingen. Es fällt den Mädchen sehr schwer, wieder auszusteigen, weil sie sich schämen, wenn sie das erste Mal ihren Körper verkauft haben. Auch gehörlose Mädchen sind sehr beliebte Ziele von Loverboys.

Sie haben betont, dass Ihre Website und die App in die Gebärdensprache übersetzt wurden. Genau aus diesem Grund?

Von Weiler: Ja. Mädchen und Jungen mit Beeinträchtigungen sind erheblich öfter von sexualisierter Gewalt betroffen. Bei gehörlosen Mädchen und Frauen ist es jede zweite! Sie sind eine besondere Gruppe, weil sie eben eine besondere Sprache sprechen. Menschen mit Beeinträchtigungen sind in besonderem Maße auf Hilfe und ein Netzwerk von Erwachsenen angewiesen. Da ist es einfacher, seine Macht auszunutzen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Aufklärung und Intervention zum Thema sexualisierte Gewalt wirklich alle Kinder und Jugendlichen sowie die Erwachsenen um sie herum erreicht.

Freie Autorin

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