Kriminalität

Sind Menschen mit Migrationshintergrund häufiger kriminell?

Die Zahl der Fälle von Straftaten mit tatverdächtigen Zuwanderern ist zuletzt gestiegen. Kriminologe Martin Rettenberger erklärt im Interview, warum es trotzdem zu einfach gedacht ist, Migration als Risikofaktor zu sehen

Von 
Stefanie Ball
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Junge Männer sind grundsätzlich häufiger kriminell als Frauen und ältere Männer. © Peter Endig/Dpa

Sind Migranten häufiger kriminell? Die Statistik scheint das nahezulegen. Doch das Thema ist komplexer, und man sollte statt voreiliger Schlüsse in die Tiefe gehen, mahnt Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden.

Herr Professor Rettenberger, warum sind junge Männer grundsätzlich häufiger kriminell als junge Frauen oder ältere Männer?

Martin Rettenberger: Das ist einer der ältesten Befunde in der Kriminologie, der sich mit Daten und Fakten belegen lässt. Es gibt einen Geschlechtsunterschied und die sogenannte Alters-Kriminalitäts-Kurve - das sind die am besten abgesicherten Erkenntnisse in der Forschung. Dahinter steht ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren.

Es gibt biologische Faktoren wie hohe Testosteronwerte, die aggressives Verhalten auslösen können und die im Laufe der Lebenszeit wieder sinken. Daneben steht das Bild von Männlichkeit, das Jugendlichen und jungen Männern durch die Gesellschaft vorgelebt wird, und darin spielt männliche Stärke noch immer eine große Rolle. Dazu kommen dann noch gruppendynamische Aspekte, viele Delikte wie Raub oder Schlägereien werden aus einer Gruppendynamik heraus begangen.

Die Zahl der Fälle von Straftaten mit tatverdächtigen Zuwanderern ist zuletzt gestiegen. Wobei der Anteil der Fälle höher war als der Anteil der Nationalitäten an der Gruppe der Zuwanderer - zumindest bei einigen Zuwanderergruppe. Niedriger war der Anteil beispielsweise bei Menschen aus Syrien, Afghanistan und Irak, deutlich höher war der Anteil bei Zuwanderern aus Algerien, Marokko, Tunesien sowie Georgien. Woran liegt’s?

Rettenberger: Dass Menschen mit Migrationshintergrund in der Kriminalstatistik überrepräsentiert sind, ist nichts Neues. Insofern ist mir die derzeitige Skandalisierung auch unverständlich. Das ist seit Jahrzehnten Thema und zwar in allen westlichen Ländern. Zu behaupten, Migration wäre ein Risikofaktor für Kriminalität oder wiederholte Kriminalität, ist aber zu kurz gesprungen.

Weil?

Rettenberger: Weil die Gründe vielschichtig sind. Die Demografie, dass unter den Zugewanderten viele junge Männer, zum Teil unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind, ist ein Grund. Ein anderer ist die schlechtere gesellschaftliche Teilhabe migrantischer Menschen. Bekanntlich ist der Bildungserfolg in Deutschland stark abhängig von der Frage, woher ich komme. Menschen mit Migrationshintergrund haben hier einfach schlechtere Chancen. Auf Bildung, auf einen Job, auf Geld.

Aber deshalb müssen sie ja nicht gleich kriminell werden.

Rettenberger: Mangelnde Teilhabe erhöht aber das Risiko für Kriminalität. Das gilt auch für Menschen ohne Migrationshintergrund. Daneben wissen wir aus der Kriminalitätsforschung, dass es kriminalitätsfördernd wirken kann, wenn Menschen selbst Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind. Das ist der Victim-Offender-Overlap, eine Schnittmenge, in der Betroffene zu Tätern werden können.

Zur Person

  • Martin Rettenberger ist Leiter der Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden und Professor am Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
  • Er studierte Psychologie an der Universität Regensburg und an der Freien Universität Berlin sowie Kriminologie an der Universität Hamburg.
  • Nach seiner Promotion arbeitete Rettenberger am Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Zwischen 2013 und 2015 war er Juniorprofessor für Forensische Psychologie an der Uni Mainz. sba

Es gab ja Gründe für die Menschen, aus ihren Heimatländern zu fliehen. Sie haben dort in prekären Verhältnissen gelebt und womöglich selbst Gewalt erfahren. Dazu kommen die Erfahrungen während der Flucht, die viele Menschen traumatisiert hat.

Kriminelles Verhalten wird in öffentlichen Diskussionen häufig der Kultur zugeschrieben. Existiert ein solcher Zusammenhang?

Rettenberger: Mit der Kulturthese begibt man sich auf sehr dünnes Eis, ich wäre da vorsichtig. Die Daten, die es dazu gibt, sind nicht belastbar, und wenn man ihnen nachgeht, handelt es sich oft um Rationalisierungen der Täter, die ihre Vergehen rechtfertigen mit „Das ist bei uns halt so“.

Wir reden bei Kriminalität ja von Extremverhalten, das selten ist und im Wesentlichen in der Persönlichkeit des Einzelnen begründet liegt. Einen Menschen zu töten, ihn auszurauben, zu verprügeln oder zu betrügen wird letztlich überall auf der Welt geächtet.

Was ist mit politisch motivierter Gewalt wie bei der Tat auf dem Mannheimer Marktplatz? Der Mann kam ursprünglich aus Afghanistan und lebte bereits viele Jahre in Deutschland.

Rettenberger: Der Täter hat sich offenbar in Deutschland radikalisiert. Solche Prozesse lassen sich häufig mit den inneren Zuständen solcher Menschen erklären, da gibt es eine innere Lücke, die gefüllt werden will. Die Menschen suchen nach einem Sinn in ihrem Leben, gleichzeitig fühlen sie sich abgelehnt, finden ihren Platz in der Gesellschaft nicht. Die springen dann an auf Radikalisierungsangebote, und die sind über die sozialen Medien heute durchgehend verfügbar.

Migration und Kriminalität ist ein Reizthema. Warum ist das so?

Rettenberger: Das Thema ist einfach, jeder hat eine Meinung dazu. Das ist wie mit dem Gendersternchen. Im Alltag spielt das eigentlich gar keine Rolle, trotzdem äußern sich alle dazu. Auch Kriminalität, gar schwerwiegende Delikte wie Raub oder Totschlag sind nicht alltäglich, aber jeder hat etwas dazu zu sagen.

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Manche Menschen suchen sich bewusst solche Themen, die wollen gar nicht nachdenken und diskutieren, und wenn schon nicht mehr Mann und Frau klar sind, dann sind doch wenigstens die Deutschen gut und die Ausländer kriminell.

Unter den Menschen, die auf diese Themen aufspringen, sind auch viele Politiker…

Rettenberger: In der Tat wird das Thema Migration und Kriminalität politisch immer wieder genutzt, um mit vermeintlich einfachen Erklärungen und Lösungen die öffentliche Meinung in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Mein Appell ist deshalb: Es gibt keine einfachen Lösungen, wir müssen uns das Problem genauer anschauen.

Woher kommt überhaupt das Bedürfnis, hier zu unterscheiden in migrantische und nicht-migrantische Menschen, wobei Letztere noch dazu das Gefühl haben, sie würden benachteiligt, während „die Flüchtlinge“ alles bekommen?

Rettenberger: Dahinter steht das klassische Ingroup-Outgroup-Phänomen: Wohin gehöre ich, und wer gehört zu mir? Es gibt ein sozialpsychologisches Experiment, in dem werden Menschen zufällig in zwei Gruppen eingeteilt und dann aufgefordert, Geld, das sie erhalten, zu verteilen. Jeder gibt der eigenen Gruppe mehr als der vermeintlich fremden Gruppe. Obwohl es überhaupt keine Kriterien gab, nach denen die Gruppen eingeteilt wurden.

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Aber jeder Mensch will irgendwo dazu gehören, und gehört er einmal zu einer Gruppe, sind die anderen automatisch draußen und werden negativer als die eigene Gruppe wahrgenommen. Häufig entstehen auf diese Weise auch Neiddebatten, dass es „den anderen“ ja angeblich besser gehe oder sie mehr hätten als man selbst beziehungsweise als die eigene Gruppe.

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