Frankfurt. Man sollte eigentlich meinen, dass Alfred Gislason in seiner Karriere wirklich schon alles erlebt hat. Der Handball-Bundestrainer ist ja nicht nur seit mehr als zwei Jahrzehnten in seinem Metier unterwegs, sondern noch dazu einer der Besten seiner Zunft. Und doch steht bald für ihn eine Art Premiere an, wenn der Isländer seinen Kader für die Olympischen Spiele nominiert. Denn dann muss der 61-Jährige erstmals in seiner noch recht kurzen Laufbahn beim Deutschen Handballbund ein paar Personalentscheidungen treffen, die für Enttäuschung und Frust sorgen, die Träume zerstören werden. Gislason hat – anders bei der von Absagen geprägten WM im Januar – die Qual der Wahl. Und zwar eine sehr schwierige, weil der Isländer nicht so viele Spieler wie bei einer EM oder WM berufen darf. Nur 14 Profis sind erlaubt – und Härtefälle entsprechend programmiert.
Das Gerüst steht
In den EM-Qualifikationsspielen am Donnerstag in Bosnien-Herzegowina (16.10 Uhr/ARD) und am Sonntag in Stuttgart gegen Estland (18 Uhr/Sport1) können sich die Wackelkandidaten präsentieren und Werbung in eigener Sache betreiben. Die Teilnahme an der Europameisterschaft in der Slowakei und in Ungarn hat die DHB-Auswahl bereits seit Januar sicher, nun geht es um die Tickets für Tokio. Aber nicht mehr für jeden.
Ein Gerüst habe er bereits im Kopf, verrät Gislason vor dem Kader-Casting im Zeichen der Ringe. Ein paar Plätze seien allerdings noch offen. Wie viele es sind, das will er nicht verraten. Die Deutschen werden wegen der Unwägbarkeiten der Corona-Pandemie mit 14 + 3 Spielern nach Japan fliegen. Konkret bedeutet das: Ein Spieler wird als 15. eine Vollakkreditierung erhalten, zwei weitere können an den Trainingseinheiten teilnehmen, im Olympischen Dorf lebt dieses Duo aber nicht. Und im Spieltagskader dürfen eben nur 14 Handballer stehen.
Zehn bis zwölf Profis, darunter auch der momentan verletzte Kapitän Uwe Gensheimer von den Rhein-Neckar Löwen, dürften ihr Olympia-Ticket sicher haben. Ansonsten wird Gislason noch ein paar grundsätzliche Entscheidungen treffen müssen. Löwe Jannik Kohlbacher ist beispielsweise der deutsche Kreisläufer mit den besten Offensivqualitäten. Gefühlt hat er einen Magneten im Arm und liefert seine Tore so zuverlässig ab wie ein Postbote seine Briefe.
An den gesetzten Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek führt für ihn dennoch kein Weg vorbei, weil beide Weltklasse in Abwehr und Angriff verkörpern. Die WM im Januar nutzte zudem Johannes Golla eindrucksvoll, um sich in Stellung zu bringen. Im Gegensatz zum Löwen-Star, der am Donnerstag in Bosnien aussetzt, kann der Flensburger im Mittelblock decken. Gislason schätzt das.
Seit seinem Dienstbeginn betont der Coach, dass er Spieler braucht, die „auf beiden Seiten des Feldes“ einsetzbar sind. „Es ist Fakt, dass Spieler wie Wiencek, Pekeler und Golla einen kleinen Vorteil haben, weil sie im Mittelblock spielen können“, sagt der Bundestrainer am Mittwoch auf Nachfrage dieser Redaktion. „Aber das heißt nicht, dass Jannik keine Chance in der Nationalmannschaft hat. Er ist ein überragender Kreisläufer und besonders im Angriff schwer zu stoppen. In der Abwehr macht er es gut auf der Halbposition.“ Aber eben nicht im Deckungszentrum.
Gislason wird sich genau überlegen, was er will. Der Taktikfuchs wird tüfteln, basteln, modellieren, Namen streichen und wieder hinzufügen. Es sei ein großes Plus, wenn jemand mehrere Positionen spielen könne, sagt der Bundestrainer und zählt die Fragen auf, die sich ihm stellen: „Nehme ich einen Abwehrspezialisten mit oder drei Kreisläufer? Wer von der halblinken Position kann auch auf der Mitte spielen? Und welcher Linkshänder bietet das ebenfalls?“
Finn Lemke, einer der großen Stützen des Erfolgsjahres 2016 mit EM-Titel und Olympia-Bronze, wird sich strecken müssen. Die praktisch nur rudimentär existierenden Angriffsqualitäten könnten ihm zum Verhängnis werden, während aufstrebende Senkrechtstarter wie Sebastian Heymann beste Chancen haben. Das weiß der gebürtige Heilbronner selbst. „Für mich spricht, dass ich im Angriff und im Mittelblock spielen kann“, antwortet der 23-Jährige auf die Frage, warum man ihn mit nach Tokio nehmen sollte.
Gewiss: Der Mann von Frisch Auf Göppingen gehört zu den ganz heißen Olympia-Kandidaten. Für andere wird entscheidend sein, ob Gislason lieber mehr Leute für den spielentscheidenden Rückraum nominiert und dafür die Rechtsaußenposition nur einfach anstatt doppelt besetzt. Hier stehen der in dieser Saison häufig verletzte und selten überzeugende Tobias Reichmann sowie Patrick Groetzki und Timo Kastening zur Auswahl. Letzterer ist nach kontinuierlich guten DHB-Leistungen eigentlich gesetzt, die beste Bundesliga-Trefferquote aus dem Feld hat bei diesem Trio aber der seit Wochen formstarke Groetzki. „Momentan läuft es ganz gut“, sagt der gebürtige Pforzheimer. Gislason wird’s gewiss registriert haben.
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