Koalition - Baden-Württemberg soll Klimaschutzland Nummer 1 werden / Winfried Kretschmann und Thomas Strobl stellen Vertrag vor

„Regieren ist halt kein Ponyhof“

Von 
Peter Reinhardt
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Ministerpräsident Winfried Kretschmann (r., Grüne) und CDU-Innenminister Thomas Strobl präsentieren in einer Forschungslandschaft ihren Koalitionsvertrag. © dpa

Stuttgart. In der riesigen Halle steht hier eine nackte Autokarosserie, da ragen Roboterarme in die Höhe, und am Rande sind Messstände aufgebaut. Die Arena 2036 in Stuttgart ist ein Forschungszentrum, in dem Mitarbeiter aus Hochschulen und Weltfirmen von Daimler über Bosch bis zu BASF und Siemens gemeinsam neue Ideen zu Produkten entwickeln. An diesem Dienstag hat man in der Mitte freigeräumt. Eine große Tafel für die Politiker ist aufgebaut und viele kleine Stehtische für die Journalisten, die zur Vorstellung des neuen Koalitionsvertrags von Grünen und CDU gekommen sind. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) führt diese Halle, die so viel technischen Fortschritt atmet, immer wieder gerne vor.

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Digitalisierung kommt denn auch gleich im ersten Satz vor, als Kretschmann den 162-seitigen Vertrag erläutert. Er zitiert den legendären Genossen Herbert Wehner, der habe „Politik als Kunst, das Nötige möglich zu machen“ beschrieben. Darum gehe es in der Regierung, die er die nächsten fünf Jahre anführen will. Übersetzt heißt das wohl, dass sich auch der Klimaschutz den finanziellen Möglichkeiten unterordnen muss. Da will sein CDU-Vize Thomas Strobl natürlich nicht zurückstehen. Er hat sich das passende Zitat beim Nobelpreisträger Albert Einstein entliehen: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft. In ihr gedenke ich zu leben.“ Strobl beschwört den neuen Geist der beiden Partner. „Ein neuer Aufbruch“ sei das gemeinsame Ziel.

Wenig Geld, viele Wünsche

Im Wahlkampf hat Kretschmann einmal die drei zentralen Aufgaben der neuen Landesregierung so definiert: „Erstens Klima, zweitens Klima und drittens Klima.“ Schon im Sondierungspapier hat die CDU weitreichende und teure Projekte unterschrieben. Bis zu 1000 neue Windräder, Kohleausstieg bis 2030 und eine Pflicht zum Bau von Solaranlagen auf allen neuen Wohnhäusern. Doch dann haben die Finanzpolitiker gerechnet und sahen Milliardenlöcher. Nun stehen im Koalitionsvertrag ganz oben als erstes Kapitel der Haushalt und die Zusage, die Schuldenbremse einzuhalten. Sehr zum Ärger der Umweltschützer gilt auch für die Maßnahmen zum Klimaschutz der Finanzierungsvorbehalt. „Regieren ist halt kein Ponyhof“, sagt Kretschmann ungerührt.

Bildungspolitische Versprechen

Einen bunten Wunschzettel haben die Bildungspolitiker von Grünen und CDU aufgeschrieben. Als hätte es nicht die Pleite mit der Bildungsplattform „Ella“ gegeben, formulieren sie für Baden-Württemberg das Ziel, „bundesweit Vorreiter einer digital unterstützten Bildung“ zu werden. In einschlägigen Studien rangiert der Südwesten da eher unter ferner liefen. Großspurig steht im Vertrag die Zusage: „Wir schaffen technische, räumliche und organisatorische Rahmenbedingungen, um Lernen durch Digitalisierung zeitgemäß zu modernisieren.“ Man wüsste gerne, was das konkret heißt. Denn für die Räume sind eigentlich Städte und Gemeinden als Schulträger zuständig. Mit denen will man sich die nächsten zwei Jahre erst über eine neue Aufgabenverteilung unterhalten.

Ausbildungsgarantie

Die künftige Landesregierung will allen Jugendlichen, die es wollen, zu einem Ausbildungsplatz verhelfen. Falls die Unternehmen trotzdem nicht genügend Lehrstellen anbieten, will das Land mit außerbetrieblichen Angeboten in die Bresche springen. Besonders viel Zukunftsmusik liegt in der Idee eines Qualifizierungseinkommens für alle Arbeitnehmer, die eine längere Weiterbildung absolvieren. Wer zahlt, wird allerdings nicht gesagt.

Wenige Festlegungen

Überhaupt vermeiden es Grüne und CDU trotz des rekordverdächtigen Umfangs ihres Vertrags konsequent, sich auf finanzielle Einzelheiten festzulegen. So muss sich Strobl mit der Zusage begnügen, dass die Polizei personell aufgestockt wird. Wie viele Stellen das sein könnten, bleibt offen. Genauso übrigens wie es keine Festlegung auf konkrete Förderungen für Klimaschutz oder im Verkehrssektor gibt. Dabei haben die Fachleute für die verschiedenen Gebiete genau ausgerechnet, was jeder ihrer Vorschläge kostet.

Mobilitätsgarantie

So bleibt es auch beim grünen Herzensthema Mobilität bei vollmundigen Versprechen. Alle halbe Stunde sollen Dörfer zu den gängigen Verkehrszeiten mit öffentlichem Nahverkehr angesteuert werden, heißt es auf Seite 126. Gleich daneben steht der Satz: „Alle Orte in Baden-Württemberg werden von fünf Uhr früh bis Mitternacht mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar sein.“ Jeder Interessierte kann sich raussuchen, welche Variante er lieber hat. Für beide bleibt ohnehin offen, wann es so weit ist. Ähnlich ist es mit dem landesweiten Studententicket für 365 Euro pro Jahr. Das Konzept hat Verkehrsminister Winfried Hermann schon vor der Corona-Krise in der Schublade verschwinden lassen, weil das Geld nicht da war.

Ein Ressort mehr

Ein paar Millionen machen Grüne und Christdemokraten dann doch locker, um die Machtbalance den veränderten Gewichten anzupassen. Weil die Grünen bei der Landtagswahl mit 32,6 Prozent weit vor der auf 24,1 Prozent abgesackten CDU lagen, pochen sie auf mehr Einfluss in der Regierung. In einem stundenlangen Tauziehen am Abend vor der Vorstellung des Koalitionsvertrags einigte man sich auf die Schaffung eines neuen Ministeriums für Wohnen und Landesentwicklung, das die CDU besetzen darf. Weil den Grünen erstmals das Kultusministerium zufällt, haben sie künftig sechs Fachressorts und den Regierungschef, die geschrumpfte CDU unverändert fünf. Kritik an den Kosten lässt Kretschmann abtropfen: „Wohnen ist eine zentrale Aufgabe und hat ein eigenes Ministerium verdient.“ Dabei hat seine Regierung schon in den letzten fünf Jahren 600 Beamte für die Ressorts zusätzlich eingestellt, ein Anstieg um fast 20 Prozent.

Korrespondent Landespolitischer Korrespondent in Stuttgart

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