Mannheim. David Linse ist der Persönliche Referent des Oberbürgermeisters. Und er wohnt in Rheinau-Süd. „Bevor Sie eine Mail an mich schreiben, weiß ich morgens schon, was in Rheinau-Süd gesprochen wird“, sagt Christian Specht kürzlich bei einer Veranstaltung im örtlichen Siedlerheim. Derzeit jedoch wird der OB von Linse aus Rheinau-Süd nicht viel Fröhliches hören. Die Siedler sind, so ihr Vorsitzender Hans Held, „stinksauer“, weil bei der Umbenennung von vier Straßen mit keinem ihrer Anliegen erfolgreich. Wie die Stadt nun mitteilt, soll die Abstimmung über die neuen Straßennamen nämlich im März stattfinden - stadtweit und über sämtliche 18 Vorschläge.
Vergangenen Dienstag bestätigt der Gemeinderat mit 27 zu 14 Stimmen einen Beschluss, den eine Woche zuvor der Hauptausschuss fasst: Die Bewohner von Rheinau-Süd erhalten kein Recht, aus den 18 Namensvorschlägen zur Neubenennung der Straßen acht auszuwählen (sogenannte „Short List“). Auch die von den Siedlern geforderte Zulassung von See-Namen gibt es nicht.
Es bleibt also bei dem Verfahren, das der Gemeinderat Anfang 2022 mit breiter Mehrheit - nur drei der 49 Mitglieder votieren dagegen - beschlossen hat. Damals entscheidet das Gremium, die nach den Kolonialverbrechern Theodor Leutwein, Adolf Lüderitz und Gustav Nachtigal sowie dem Hitler-Verehrer Sven Hedin benannten Straßen in Rheinau-Süd umzubenennen.
Umbenennung Straßennamen: Alle Mannheimer stimmen ab
Und so wird nun folgen, was Specht bereits im Hauptausschuss verspricht: Die Bürgerbefragung werde „sehr zeitnah erfolgen“, noch vor der Kommunalwahl: „Wir werden den Prozess auf jeden Fall starten, wie es bisher vorgesehen war.“ Das bedeutet: Alle Mannheimerinnen und Mannheimer ab dem 16. Lebensjahr dürfen in Kürze über die 18 Namensvorschläge abstimmen. Dies soll online erfolgen, aber laut Stadt auch analog, also per Post, möglich sein.
Die Beteiligten werden nun stadtweit für ihre Präferenzen werben. Beim Arbeitskreis Koloniales sind diese seit Langem klar. Unter den 18 Vorschlägen sind vier, die der AK bereits seit zwei Jahren wünscht: May Ayim, Rudolf Duala Manga Bell, Wangari Maathai und Miriam Makeba. In dem Aufruf „Neue Straßennamen als Signal gegen Rassismus und für Vielfalt“ wird dies von mehr als 100 Persönlichkeiten aus den Bereichen Politik und Wissenschaft, Kultur und Medien unterstützt.
Der Vorstand der Siedler wird sich, so Vorsitzender Hans Held, am Dienstag mit dem Thema befassen: „Das Ergebnis wird danach mit den Mitgliedern diskutiert werden.“
Auszuwählen sind vier Namen, mindestens zur Hälfte Frauen. Zum Zuge kommen also auf jeden Fall jene beiden Frauen, die bei der Wahl die meisten Stimmen erhalten. Das Ergebnis wird nach Stadtteilen ausgewiesen. Nicht geregelt ist, was geschieht, wenn - wie zu erwarten - das Abstimmungsergebnis stadtweit anders ausfällt als vor Ort in Rheinau-Süd. Nur eines steht fest: Entscheiden und damit gewichten muss am Ende der Gemeinderat.
Auch wenn die vier Namen feststehen, bleibt eine Frage: Welche der vier umzubenennenden Straßen erhält welchen der vier neuen Namen? „Ziel ist es, vom Bezirksbeirat eine Empfehlung über die genaue Zuordnung der Namen zu den jeweiligen Straßen zu erhalten und diese in die Beschlussvorlage des Gemeinderats zu übernehmen“, erläutert Stadt-Sprecherin Corinna Hiss.
Nazi-Vergangenheit Schüttes
Das Verfahren zur Umbenennung im Süden Mannheims wird im Norden mit großem Interesse verfolgt. Denn auch hier, auf der Schönau, gibt es einen historisch belasteten Straßennamen. Als 1951 im Stadtteil die Siedlung erweitert wird und das Gebiet den Straßen-Taufbezirk Luftfahrtpioniere erhält, da wird nicht nur Otto Lilienthal Namenspate einer Straße, sondern auch Johann Schütte. Damals ist Schütte als genialer Luftfahrtpionier im Bewusstsein, als der Mann, der vor dem Ersten Weltkrieg am Südrand von Mannheim Luftschiffe baut.
Erst allmählich kommt seine andere, eine sehr dunkle Seite ans Licht. Am 16. Oktober 2021 fasst der „Mannheimer Morgen“ im Rahmen seiner Serie „Zeitreise“ diese eindeutigen Erkenntnisse zusammen. Bereits die Nutzung der Innovation Luftschiff ist kritikwürdig: nie eine zivile, sondern eine rein militärische. Im Ersten Weltkrieg wird es verwendet, um Bomben auf Großstädte wie London zu werfen. Schüttes Werk bringt nur Leid und Tod.
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Hinzu kommt die politische Gesinnung Schüttes. 1931, schon zwei Jahre vor der NS-Machtergreifung, wird er Anhänger Hitlers und der NSDAP - und sich bis zu seinem Tode 1940 dessen rühmen. Parallel entwickelt er sich „vom Propagandisten zum Täter“, wie Marchivum-Direktor Harald Stockert konstatiert. Und zwar durch die von Schütte forcierte Gleichschaltung der Berufsorganisationen, denen er vorsteht. Hier bedeutet Gleichschaltung: Ausschaltung demokratischer Prozesse und Ausgrenzung von Juden, Zerstörung ihrer beruflichen und materiellen Existenz, für sie Beginn eines Weges, der im Holocaust enden wird.
Aus diesem Grunde beschließt der Gemeinderat 2023 die Umbenennung des dort gelegenen städtischen „Johann-Schütte-Kinderhauses“, die am 8. Dezember durch Abschrauben des Schildes vollzogen wird. Bereits damals erhebt sich für jeden aber die Frage: Und die Straße?
„Ich persönlich halte eine Umbenennung auch der Straße für geboten“, bekennt Bildungsdezernent Dirk Grunert schon damals, betont aber: „Das bedingt jedoch einen längeren Prozess.“ Der soll jetzt beginnen. Drei Tage nach Umbenennung des Kinderhauses beantragt die Li.Par.Tie im Rat auch jene der Straße, eine Woche später fordern die Grünen: „Die Stadtverwaltung organisiert einen Prozess unter Beteiligung der Anwohner, in dem über die Frage einer Umbenennung diskutiert wird.“ Danach soll die Verwaltung dem Gemeinderat einen Vorschlag zum Verfahren unterbreiten.
SPD offen, ML dagegen
Sofern eine Umbenennung erfolgen soll, schlagen die Grünen als neue Namenspatin Henriette Wagner vor, im Dritten Reich der Widerstandsgruppe um Georg Lechleiter verbunden. Als eine Nachbarin sie mit ihm auf einem Balkon sieht, wird sie denunziert, zum Tode verurteilt und 1943 hingerichtet. Eine nach ihr benannte Straße würde zu dem unmittelbar angrenzenden Taufbezirk Widerstandskämpfer passen, betont Stadtrat Gerhard Fontagnier.
Zustimmung kommt von der SPD. „Grundsätzlich ist die Benennung einer Straße eine große Ehre“, erinnert die örtliche Stadträtin Andrea Safferling: „Selbstverständlich muss man eine solche Ehrung Johann Schüttes nach den vorliegenden Erkenntnissen in Frage stellen.“ Den Antrag der Grünen hält sie daher für richtig, zumal er damit einen Beteiligungsprozess anstößt. Im Unterschied zu Rheinau-Süd sieht sie „allerdings nicht die Notwendigkeit, dass alle Mannheimerinnen und Mannheimer über einen neuen Straßennamen abstimmen. Das könnte man auch auf Schönau begrenzen.“
Die Mannheimer Liste lehnt eine Umbenennung ab, wie sie in einem Antrag an den Gemeinderat formuliert. Stattdessen schlägt sie Zusatzschilder vor, die eine kurze Beschreibung des Lebens von Schütte enthalten sowie einen QR-Code, der zu einer ausführlicheren Biografie führt. Diese Lösung würde, so meint die ML, „die Bevölkerung ermutigen, verstärkt gegen Extremismus aller Art und für Demokratie, Toleranz und Frieden einzutreten“.
Pro- und Contra-Anträge stehen am vergangenen Dienstag auf der Tagesordnung des Gemeinderates. Beraten werden sie jedoch nicht, sondern in den Ältestenrat verwiesen. Ein Gremium, das aus dem OB als Vorsitzendem und - je nach Größe der Fraktionen - einem bis zwei Vertretern besteht und nicht öffentlich tagt. So wie letzten Dienstag.
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